Im Rahmen meiner Forschungen stoße ich immer wieder auf Fakten, die abseits der bekannten Rezeptionspfade Biografie und Werk Brigitte Reimanns, Siegfried Pitschmanns und ihrer Schriftstellerkolleginnen und -kollegen miteinander verknüpfen: vermeintliche Kleinigkeiten, die interessante Zusammenhänge herstellen oder sympathische Details entdecken. Fast alle verwende und veröffentliche ich in meinen Büchern, Zeitschriftenaufsätzen und Vorträgen. Manchmal sind sie dort allerdings etwas versteckt in Nachworten und Anmerkungen oder in Fachpublikationen, die dem breiten Lesepublikum nicht so bekannt sind. Deshalb lade ich Sie ein, mit mir in „Wussten Sie schon, ...“ auf Entdeckungsreise zu gehen.
Wussten Sie schon, ...
..., was sich hinter der vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR verwendeten Bezeichnung "Romeo" verbarg – und was das mit Brigitte Reimann zu tun hatte?Bis zu seinem Lebensende vermutete Siegfried Pitschmann, Hans Kerschek wäre von der Staatssicherheit als sogenannter „Romeo“ bewusst damit beauftragt worden, seine Ehe mit Brigitte Reimann zu zerstören. Diese Vermutung war nicht ganz unbegründet, denn die fast vier Jahre währende „ménage à trois“ zwischen Reimann, Pitschmann und Kerschek führte schließlich zur Scheidung von Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann am 13. Oktober 1964, der am 27. November desselben Jahres fast nahtlos die Eheschließung Reimanns mit Kerschek folgte. Als „Romeo“ wurden Spione bezeichnet, deren Aufgabe darin bestand, mit einer vorgegebenen Zielperson eine Liebesbeziehung einzugehen, um diese beispielsweise zur „Abschöpfung“ von nachrichtendienstlich interessanten Informationen zu benutzen. „Romeos“ sahen gut aus, waren sehr intelligent und hatten eine starke sexuelle Ausstrahlung. All dies traf – zumindest in Brigitte Reimanns Augen – ganz besonders auf Hans Kerschek zu.
Vor der Herausgabe des Briefwechsels zwischen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann galt es deshalb, diese im Raum stehende Frage zu klären. Hierfür wurden seitens der Herausgeberin die MfS-Unterlagen zu Hans Kerschek eingesehen. Das Ergebnis der Recherche beweist eindeutig, dass sich anhand der vorhandenen Dokumente im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) Siegfried Pitschmanns Vermutung nicht belegen lässt. Die Verpflichtungserklärung des IM „Ewald“ alias Hans Kerschek ist datiert auf den 2. Oktober 1968(Archiv BStU, MfS, BV Cottbus AIM 228/79 Bd. I, Seite 17.), einen Zeitpunkt, an dem Brigitte Reimann bereits vier Jahre Kerscheks Ehefrau war. Am 18. November 1968 verließ die Schriftstellerin Hoyerswerda und zog nach Neubrandenburg. Hans Kerschek folgte ihr nicht, sondern ging stattdessen eine neue Beziehung ein.
Weiterlesen in: "Wär schön gewesen!" Der Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann
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Wussten Sie schon, ...
..., was sich hinter der Lizenznummer von DDR-Büchern verbirgt?Die Lizenznummer war in der DDR eine nationale Buchnummer, die der „International Standard Book Number“ (ISBN) vergleichbar ist. Sie wurde bis 1989 vergeben; von 1986 bis 1989 parallel zur ISBN. Die Lizenznummer besteht aus den folgenden vier Ziffernblöcken: Verlagsnummer / Verlagsnummer für die Druckgenehmigung / Laufende Nummer der Publikation innerhalb des Kalenderjahres / Erscheinungsjahr. Bis Anfang der 1960er Jahre gab es allerdings teilweise Abweichungen von dieser Struktur, beispielsweise beim Militärverlag.
Die Lizenznummer ist ein wichtiger Schlüssel zum Auffinden des jeweils zugehörigen Druckgenehmigungsvorganges. In der DDR musste jede Publikation vor ihrer Veröffentlichung einen umfangreichen und standardisierten Druckgenehmigungsvorgang durchlaufen, der schriftlich dokumentiert wurde. Dazu erhielt die Publikation eine Drucknummer, die identisch ist mit den letzten drei Ziffernblöcken der Lizenznummer.
Die Druckgenehmigungsvorgänge befinden sich heute im Bundesarchiv und sind über ein Online-Findbuch erschlossen.
Die Druckgenehmigungsvorgänge befinden sich heute im Bundesarchiv und sind über ein Online-Findbuch erschlossen.
Wussten Sie schon, ...
..., dass Brigitte Reimanns und Siegfried Pitschmanns Texte manchmal wie ineinandergeschachtelt zusammenflossen?In den letzten Kriegsmonaten des Jahres 1945 wurde Siegfried Pitschmann mit einigen seiner Klassenkameraden ein paar Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt Grünberg (heute Zielona Góra) zum Bahnhofsdienst abkommandiert. Diese Erinnerungen, die ihn lebenslang verfolgten, verarbeitete er in mehreren Erzählungen, deren Protagonist zumeist den Namen Gottfried trägt (Siegfried Pitschmanns ältestem, in den letzten Kriegstagen gefallenen Bruder).
Brigitte Reimann verwendete Siegfried Pitschmanns Erlebnisse beim Bahnhofsdienst in verfremdeter Form als zentrales Motiv ihrer 1960 entstandenen Erzählung „Das Geständnis“: jenes Ereignis, wegen dem sich ihr Protagonist Martin schuldig fühlt und – in der sicheren Annahme, nun dafür verurteilt zu werden – zum Richter geht.
Wussten Sie schon, ...
..., dass Brigitte Reimanns Urne am 20. Juli 2019 auf dem Ostfriedhof in Burg ihre nunmehr wohl endgültige Ruhestätte gefunden hat?Am 21. Juli 2019 wäre Brigitte Reimann 86 Jahre alt geworden. Dass ihre sterblichen Überreste bis zu diesem Zeitpunkt eine wechselvolle Reise auf den Spuren der Familie Reimann machen würden, hätte die Schriftstellerin vermutlich nicht gedacht: Am 20. Februar 1973 erlag Brigitte Reimann im Klinikum Berlin-Buch ihrem Krebsleiden. Die vom Deutschen Schriftstellerverband organisierte Trauerfeier fand am 2. März auf dem Friedhof Berlin-Baumschulenweg statt. Am 3. April 1973 wurde Brigitte Reimann in ihrer Heimatstadt Burg beerdigt. 1991 wurde das Urnengrab nach Oranienbaum (den Wohnort von Brigitte Reimanns jüngerem Bruder Ulrich) überführt und neben den Eltern Willi und Elisabeth Reimann beigesetzt. Am 26. März 2019 wurde im Auftrag der Stadt Burg und in Absprache mit der Familie Reimann die Urne Brigitte Reimanns vom Friedhof Oranienbaum nach Burg zurückgebracht. Seit dem 20. Juli 2019 befinden sich Brigitte Reimanns Urne und ihr Grabstein auf dem Ostfriedhof in Burg (Alter Teil des Friedhofes), Berliner Chaussee 139a, 39288 Burg (bei Magdeburg).
„Viele mochten sie, mit ihrem verzwickten Sinn für die Wirklichkeit, hinter der sie manchmal eine zweite Wirklichkeit erwartete, mit ihrer Vorliebe für laute Farben und Geräusche, einigen war sie verdächtig in ihren voreiligen Sympathien, Antipathien, mit ihrer Witterung für das Aktuelle, Notwendige, und wenige hassten sie mit ihrer Sucht nach Wahrhaftigkeit, die auch beleidigen konnte. Selber sehr verletzlich, immer, und deshalb unerschrocken, tapfer, oft bis an die Grenze des Zumutbaren – viel Mimikry, wer genauer hinsah. Jetzt, wo sie nicht mehr da ist, erscheint einem ihr viel zu kurzes Leben als dauernder Wechsel von Abfahrt und Ankunft.“
Siegfried Pitschmann
(„Sonntag“, 04.03.1973)
(„Sonntag“, 04.03.1973)
Wussten Sie schon, ...
..., dass in nahezu allen literarischen Texten Siegfried Pitschmanns, der am 12. Januar 2019 89 Jahre alt geworden wäre, eine Uhr vorkommt?Die Ausbildung beim Mühlhäuser Uhrmacher Gottfried Rost prägte Siegfried Pitschmann so sehr, dass er in fast allen literarischen Werken und Zeichnungen Detailinformationen zu Uhren und ihrer Funktionsweise „versteckte“ und auch mehrere (veröffentlichte und unveröffentlichte) Erzählungen zum Thema schrieb. Eine Auswahl von Pitschmanns Zeichnungen findet sich in „Wär schön gewesen!“ (Briefwechsel mit Brigitte Reimann) und dem Buch „Siegfried Pitschmann in Mühlhausen“.
Wussten Sie schon, ...
..., wie Reiner Kunzes berühmtes Kinderbuch „Der Löwe Leopold“ zu seinem unverwechselbaren Coverbild kam?Zu Weihnachten 1969 schenkte Marcela ihrem Vater Reiner Kunze zwölf Briefumschläge, die sie selbst mit kleinen Blumen- und Tiermotiven bemalt hatte; für jeden Monat einen. Den Umschlag mit einem winzigen Löwen schickte Reiner Kunze als Neujahrsgruß an den S. Fischer Verlag. Dem Verlag gefiel Marcelas Zeichnung so sehr, dass der „Briefumschlag-Löwe“ zum „Buchumschlag-Löwen“ wurde.
Weiterlesen in: Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen
Wussten Sie schon, ...
..., dass sowohl Brigitte Reimann als auch Siegfried Pitschmann eine Weihnachtsgeschichte geschrieben haben?Für die Weihnachtsausgabe 1961 der „Wochenpost“ entstand Brigitte Reimanns Erzählung „Bei der halben Nacht“.
Die Erzählung besteht aus drei voneinander unabhängigen Episoden, die alle in Hoyerswerda und an Heiligabend spielen und deren Ende jeweils offengelassen wird. Die Protagonisten aller drei Episoden arbeiten im Kombinat Schwarze Pumpe. Eingeleitet wird die Weihnachtserzählung von Brigitte Reimann selbst wie folgt: „Das Haus, in dem ich wohne, ist ganz neu, und die Stadt ist neu, eine Stadt aus dem Baukasten, mit linealgeraden Straßen und struppigen, kleinen Bäumen. Manchmal, an den schweren, grauen Winterabenden, schmeckt die Luft nach dem Rauch und Ruß des großen Werkes, das seine Rohrfinger über die Heide auszustrecken beginnt. In meinem blau und gelben Haus riecht es noch immer nach Farbe und streng nach Beton, aber an den Wänden im Treppenhaus gibt es schon nichtsnutzige Inschriften und die dürren Männlein, wie Kinder sie malen … Ich habe ein Jahr lang Zeit gehabt, meine Nachbarn kennenzulernen – und nun geht das Jahr zu Ende, es ist Weihnachten, eine stille, frostige Nacht mit schrägem Mond über den schneefleckigen Dächern, und das Haus ist erfüllt von einem warmen, duftenden Brodem, in dem sich die Düfte von Honigkuchen und Äpfeln und Tannennadeln mischen.“
Für die Weihnachtsausgabe 1960 der „Wochenpost“ entstand Siegfried Pitschmanns Erzählung „Das Fest“, die am Weihnachtsabend 1957 spielt.
Im Jahr 1957 lebten und arbeiteten in der Trattendorfer Heide, zwischen den Orten Spremberg und Hoyerswerda gelegen, moderne Goldgräber, sozialistische Helden und gescheiterte Existenzen, die sich aus Geldgründen, aus Idealismus oder wegen eines Dachs über dem Kopf zusammenfanden, um das Braunkohlenkombinat Schwarze Pumpe aufzubauen. „Wenn in ‚Das Fest‘ fünf Arbeiter gemeinsam Weihnachten feiern mit Gänsekeulen und Pfefferminzfusel im Schein echter Kerzen und einer dann erzählt, wie seine Mutter auf der Flucht gestorben ist – da spürt man einen Kloß im Hals. Aus Pitschmann hätte ein Charles Bukowski werden können. Aber dafür hätte er fortgehen müssen. 2002 ist er gestorben. In Suhl.“ (Andreas Montag in „Mitteldeutsche Zeitung“, 27.02.2016) Die vollständige Sammlung von Siegfried Pitschmanns „Erzählungen aus Schwarze Pumpe” ist 2016 im Aisthesis-Verlag als Buchausgabe erschienen.