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Brigitte Reimann (1933–1973)

Brigitte Reimann und Walter Lewerenz bei einer
Lesung in Berlin (1966)
Foto: Bundesarchiv [1]


Brigitte Reimann war eine deutsche Schriftstellerin. Sie wurde am 21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg geboren. Sie lebte bis 1959 in ihrer Heimatstadt Burg, zog 1960 gemeinsam mit Siegfried Pitschmann nach Hoyerswerda und 1968 nach Neubrandenburg. Von 1953 bis 1958 war Brigitte Reimann mit Günter Domnik verheiratet, von 1959 bis 1964 mit Siegfried Pitschmann, von 1964 bis 1970 mit Hans Kerschek und von 1971 bis zu ihrem Tod mit Dr. Rudolf Burgartz. Ihre Ehen blieben alle kinderlos. Brigitte Reimann erlag am 20. Februar 1973 nach langer schwerer Krankheit neununddreißigjährig in einem Berliner Krankenhaus ihrem Krebsleiden.
Brigitte Reimann hinterließ ein schmales, aber vielbeachtetes Werk, als dessen Eckpunkte der postum erschienene unvollendete Roman „Franziska Linkerhand“ (Verlag Neues Leben Berlin, 1974) und ihre Tagebuchbände „Ich bedaure nichts“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1997) und „Alles schmeckt nach Abschied“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1998) bezeichnet werden können.
Die Wahrnehmung der Person Brigitte Reimanns und ihres literarischen Schaffens sind geprägt von teilweise sehr gegensätzlichen Sichtweisen, die auch durch die jeweils zur Verfügung stehenden Quellen und die sich verändernden historischen Zeithintergründe bestimmt wurden. Die bislang einzige vollständige Übersicht über Brigitte Reimanns Werk und dessen Rezeption bietet die mehrbändige Publikation „Brigitte Reimann – Kommentierte Bibliografie und Werkverzeichnis“.

Brigitte Reimann was a German writer. She was born on July 21, 1933 in Burg near Magdeburg. She lived in her hometown of Burg until 1959, moved to Hoyerswerda with Siegfried Pitschmann in 1960 and to Neubrandenburg in 1968. Brigitte Reimann was married to Günter Domnik from 1953 to 1958, to Siegfried Pitschmann from 1959 to 1964, to Hans Kerschek from 1964 to 1970 and to Dr. Rudolf Burgartz from 1971 until her death. Their marriages were all childless. Brigitte Reimann died of cancer in a Berlin hospital on February 20, 1973 at the age of thirty-nine after a long and serious illness.
Brigitte Reimann left behind a small but highly regarded oeuvre, the cornerstones of which are the posthumously published unfinished novel „Franziska Linkerhand“ (Verlag Neues Leben Berlin, 1974) and her diary volumes „Ich bedaure nichts“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1997) and „Alles schmeckt nach Abschied“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1998).
The perception of Brigitte Reimann as a person and of her literary work is characterized by sometimes very contradictory views, which were also determined by the sources available in each case and the changing historical background of the time. The only complete overview of Brigitte Reimanns work and its reception to date is provided by the multi-volume publication „Brigitte Reimann – Annotated Bibliography and Index“.

Lebenschronik

1933
Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg als erstes von insgesamt vier Kindern des Journalisten, Schriftleiters und Bankkaufmanns Willi Reimann (26.05.1904 – 29.09.1990) und seiner Frau Elisabeth, geborene Besch (27.01.1905 – 10.12.1992), geboren.[1] Ihr Elternhaus befindet sich in der Bahnhofstraße 5.[2] Die Familie von Brigitte Reimanns Vater waren alteingesessene Burger. Familie Besch war aus Köln nach Burg gezogen und besaß hier eine kleine Goldleistenfabrik.

1934
Am 25. Dezember 1934 wurde Brigitte Reimanns Bruder Ludwig (Lutz) geboren (gest. 29.11.2022; verheiratet mit Margret Reimann, 10.07.1938–23.05.2023).

1939
Brigitte Reimann wurde am 12. April 1939 in der Burger Grundschule eingeschult. Bei der Einschulung war sie erst fünf Jahre alt.

1941
Am 21. Juli 1941 wurde ihr Bruder Ulrich (Ulli) geboren (verheiratet mit Sigrid Reimann, geb. 10.01.1941).

1942
Ab Ostern 1942 ging Brigitte Reimann auf das städtische Luisen-Lyzeum zu Burg.

1943
Am 28. März 1943 wurde ihre Schwester Dorothea (Dorli), von Brigitte Reimann auch Puppa genannt, geboren (gest. 17.06.2010; verheiratet mit Uwe Herrmann, geb. 24.10.1939). Der Vater wurde eingezogen und kam an die Ostfront. Elisabeth Reimann blieb mit den vier Kindern allein.

1944
Brigitte Reimann wurde 1944 Mitglied und Schriftführerin im Jungmädelbund.

1947
Brigitte Reimann wurde konfirmiert. Am 9. und 11. Juni 1947 fanden die Aufnahmeprüfungen für die Oberschule statt. Ab 1. September 1947 besuchte Brigitte Reimann die Geschwister-Scholl-Oberschule in Burg, in der sie erstmalig in einem gemischten Klassenverband aus Jungen und Mädchen unterrichtet wurde. In der Oberschule leitete sie eine Laienspielgruppe und verfasste für diese kleine Theaterstücke; der Berufswunsch „Schriftstellerin“ entstand. Am 10. Oktober 1947 kehrte der Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Ende November 1947 erkrankte Brigitte Reimann schwer an Kinderlähmung und lag fast drei Monate lang im Krankenhaus (vom 30. November 1947 bis 11. Januar 1948 in Burg, ab 12. Januar bis Februar 1948 in einer Privatklinik in Magdeburg). Zeitlebens behielt sie als Folge dieser Erkrankung ein leichtes Hinken zurück.

1948
Ab Ostern 1948 konnte Brigitte Reimann wieder zur Schule gehen. Im Dezember 1948 wurde bei der Schulweihnachtsfeier der Geschwister-Scholl-Oberschule Brigitte Reimanns erstes Laienspiel „Kameradschaft“ uraufgeführt; in der Burger Zeitung „Volksstimme“ erschien darüber ein Artikel.

1949
Am 1. Februar 1949 trat Brigitte Reimann in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ein.

1950
Im März 1950 lernte sie ihren ersten Freund, Klaus Böhlke, kennen.[3] Brigitte Reimann erhielt die „Wilhelm-Pieck-Friedensmedaille“ der Freien Deutschen Jugend für hervorragende Arbeit im Friedensaufgebot der FDJ. Sie nahm an einem Lehrgang für Agitationsleiter teil. Bei einem Ideenwettbewerb für Laienspiele der Volksbühne der DDR gewann Brigitte Reimann den mit 300 Mark dotierten 1. Preis. Im September besuchte sie einen Lehrgang für Laienspielleiter. Im elterlichen Haus bekam sie ein eigenes Zimmer. Am 27. Dezember 1950 wurde sie für den besten Stalin-Aufsatz des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet.[4]

1951
Vom 20. bis 22. Januar nahm Brigitte Reimann als Delegierte des Kreises Burg am 3. Kongress der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft in Berlin teil. Sie machte ihr Abitur. Anschließend wollte sie Theaterwissenschaften studieren und Regisseurin werden. Im Juni bestand sie die Aufnahmeprüfung an der Theaterhochschule Weimar. Sie begann das Studium, überlegte es sich aber wenige Tage nach Studienbeginn anders und kehrte nach Burg zurück. Bis zum 13. September absolvierte sie einen kurzen pädagogischen Lehrgang am Institut für Lehrerbildung in Staßfurt und arbeitete danach als Grundschullehrerin und Pionierleiterin an der Grundschule IV in Burg. Sie wurde Mitglied des Kulturbunds und nahm am 6. Oktober 1951 an einer Arbeitstagung junger Autoren des Mitteldeutschen Verlages in Halle (Saale) teil.

1952
Im Juli kontaktierte Brigitte Reimann im Zusammenhang mit dem ausgeschriebenen „Wettbewerb um die schönste Liebesgeschichte“ Anna Seghers und reichte zunächst ihre kurze Erzählung „Claudia Serva“ ein.[5] Anna Seghers' brieflicher Rat hinterließ großen Eindruck bei der gerade Neunzehnjährigen: „Zum Schreiben gehört eine gewisse Kühnheit wie zu allen wichtigen Unternehmen. Schreiben Sie nur kein Sonntagsdeutsch, schreiben Sie nur, was Sie wirklich denken und erleben. Schreiben Sie nur keinen falschen Pathos und keine gedichteten Artikel.“[6] Im Wettbewerb allerdings ging Brigitte Reimann leer aus, einen zweiten Preis gewann stattdessen Siegfried Pitschmann mit seiner Liebesgeschichte „Sieben ist eine gute Zahl“. Im August 1952 lernte Brigitte Reimann in der „Betriebssportgemeinschaft Einheit Burg“, dem Kanu-Klub ihres Bruders Lutz, Günter Domnik (geb. 31.10.1933) kennen und verliebte sich in ihn. Sie gab ihm den Spitznamen „Frosch“. Günter Domnik wollte für sechs Monate in Johanngeorgenstadt im Erzbergbau arbeiten, weil dort sehr hohe Löhne gezahlt wurden. Um in seiner Nähe sein zu können, bewarb sich Brigitte Reimann als Kulturinstrukteurin bei der Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) Wismut, gab ihren Plan aber nach einem kurzen Aufenthalt in Johanngeorgenstadt aus gesundheitlichen Gründen wieder auf. Sie ging zurück nach Burg und arbeitete weiter als Lehrerin. Sie gab die Leitung der Laienspielgruppe an der Geschwister-Scholl-Oberschule ab, um sich verstärkt dem Schreiben widmen zu können und begann ihren Roman „Die Denunziantin“ (Untertitel der dritten Fassung: „Kennwort Frosch“).

1953
Am 7. März 1953 beendete Brigitte Reimann die erste Fassung der „Denunziantin“. Am 14. März wurde sie in die gerade gegründete „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ (AJA) des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) in Magdeburg aufgenommen, dessen Aufgabe die Förderung des literarischen Nachwuchses war. Bereits seit Anfang des Jahres 1953 hatte sie an den Arbeitstagungen teilgenommen. Im Magdeburg lernte sie unter anderen Otto Bernhard Wendler, Wolfgang Schreyer, Wolf Dieter Brennecke und Helmut Sakowski kennen. Am 17. Oktober 1953 heirateten Günter Domnik und die schwangere Brigitte Reimann. Brigitte Reimann beendete ihre Tätigkeit als Grundschullehrerin.

1954
Am 10. Januar 1954 kam Brigitte Reimanns Tochter im sechsten Monat zur Welt und starb sofort nach der Geburt. Im April 1954 unternahm Brigitte Reimann einen Selbstmordversuch. Nachdem sie sich erholt hatte, begann sie die Arbeit an der Erzählung „Die Frau am Pranger“. Brigitte Reimann war außerdem Betriebschronistin im VEB Maschinenbau Burg, wo ihr Ehemann Günter Domnik arbeitete und Ortsvorsitzende im Kulturbund. Kurzzeitig arbeitete sie in der Volksbuchhandlung „Bücherfreund“ in Burg als Buchhändlerin.

1955
Ab 1955 arbeitete Brigitte Reimann als freiberufliche Autorin. Sie übernahm die Leitung der Laienspielgruppe des VEB Maschinenbau Burg. Die Erzählung „Der Legionär: Marienlegende 1952“ erschien als Heft 1 der Reihe „Magdeburger Lesebogen“. Ihre Erzählung „Der Tod der schönen Helena“ wurde im Verlag des Ministeriums des Innern, Berlin, in einer Reihe von Abenteuerromanen veröffentlicht. Brigitte Reimann lernte den Kunsthistoriker und Schriftsteller Georg Piltz kennen; die kurze Beziehung mit ihm sollte sie intensiv prägen. Im Oktober 1955 nahm Brigitte Reimann auf Einladung des Kulturministeriums an einer Tagung für Abenteuerschriftsteller teil.

1956
1956 erschienen die Erzählungen „Die Frau am Pranger“ (Verlag Neues Leben, Berlin) und „Kinder von Hellas“ (Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin). Vom 15. Oktober bis zum 30. November 1956 nahm Brigitte Reimann an einem DEFA-Lehrgang für Drehbuchautoren im Liselotte-Hermann-Heim in Potsdam-Sacrow teil, wo sie auch Max Walter Schulz und Herbert Nachbar kennenlernte, mit denen sie eine Dreiecksbeziehung begann.[7] Inzwischen konnte Brigitte Reimann die vorgeschriebenen zwei Publikationen vorweisen, um am 9. November 1956 in den Deutschen Schriftstellerverband aufgenommen zu werden.

1957
Am 26. September 1957 unterschrieb Brigitte Reimann unter dem Decknamen „Caterine“ eine „Bereitschaftserklärung“, als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) zu arbeiten. Am 8. Dezember wurde ihr Ehemann Günter Domnik wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ verhaftet; Domnik hatte versucht, eine Gruppe Jugendlicher vor der Festnahme durch die Volkspolizei zu schützen. In der Folgezeit erpresste das MfS Brigitte Reimann mit Aussicht auf eine Besuchserlaubnis, verbesserte Haftbedingungen und eine frühere Entlassung für ihren Ehemann.

1958
Im März 1958 lernte Brigitte Reimann im Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow am Schwielowsee den Schriftsteller Siegfried Pitschmann kennen und lieben; vom 21. März 1958 an waren sie ein Paar. Auch die von großer Ambivalenz geprägte Freundschaft zwischen Brigitte Reimann und ihrer Schriftstellerkollegin Annemarie Auer begann in dieser Zeit. Am 7. Juni wurde Günter Domnik aus der Haft entlassen. Brigitte Reimann trennte sich kurze Zeit später von ihm, um mit Siegfried Pitschmann zusammenleben zu können. Nachdem Brigitte Reimann ihre Informantentätigkeit öffentlich gemacht hatte, um sich von der Stasi-Mitarbeit befreien zu können, und Dank der tatkräftigen Unterstützung ihrer Schriftstellerkollegen, hier besonders Wolfgang Schreyer, strich das MfS am 18. November 1958 Brigitte Reimann aus ihrem IM-Kader, um sie von nun an für ihr weiteres Leben intensiv überwachen zu lassen. Am 28. November 1958 wurde Brigitte Reimann von Günter Domnik geschieden, Siegfried Pitschmanns Ehe wurde am 20. Dezember 1958 geschieden.

1959
Am 10. Februar 1959 heirateten während eines erneuten Aufenthalts im Schriftstellerheim Petzow Brigitte Reimann und Siegfried Daniel Pitschmann in Werder bei Potsdam; einziger Hochzeitsgast war beider Lektor Günter Caspar. Eine eigene Wohnung hatte das Paar zunächst nicht; sie wohnten in Brigitte Reimanns Elternhaus in Burg. Kurz vor der Hochzeit hatte Siegfried Pitschmann Brigitte Reimann in Petzow mit Bodo Uhse bekannt gemacht, der bei Brigitte Reimann einen tiefen Eindruck hinterließ. Mittlerweile steckten sowohl Reimanns aktuelles Romanprojekt „Zehn Jahre nach einem Tod“[8] als auch Pitschmanns Roman „Erziehung eines Helden“[9] in einer tiefen Krise, da die Verlage mit beiden Manuskripten mehr als unzufrieden waren und dies deutlich zum Ausdruck brachten. Am 31. Juli 1959 versuchte Siegfried Pitschmann sich das Leben zu nehmen, nachdem „Erziehung eines Helden“ vom Schriftstellerverband in der Öffentlichkeit diffamiert und als warnendes Beispiel für den sogenannten „harten Stil“ bezeichnet worden war. Erwin Strittmatter, der bei der Vorverurteilung des Pitschmann-Romans eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, versuchte daraufhin, seinen Fehler wiedergutzumachen. Er machte beiden Schriftstellern Mut und unterstützte sie bei den Planungen für einen Neubeginn in Hoyerswerda und im Kombinat Schwarze Pumpe. Im August 1959 begannen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann noch in Burg mit der Arbeit an dem Hörspiel „Ein Mann steht vor der Tür“, das im Kombinat Schwarze Pumpe spielen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war Brigitte Reimann noch nie in Hoyerswerda oder im Kombinat Schwarze Pumpe gewesen. Nur Siegfried Pitschmann kannte sich mit dem Stoff aus, über den beide nun schrieben. Am 11. November 1959 beschloss Brigitte Reimann, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen, um einen unbelasteten Neuanfang mit Siegfried Pitschmann haben zu können und verbrannte ihre Tagebücher aus den Jahren 1947 bis 1954 (ungefähr zwanzig Hefte). Am Tag darauf, dem 12. November 1965, verbrannte sie außerdem große Mengen an Briefen, Manuskripten, Bildern und Zeitungsausschnitten.

1960
Am 6. Januar 1960 zogen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann nach Hoyerswerda. Die Zweiraumwohnung in der Liselotte-Herrmann-Straße 20 wurde ihre erste eigene gemeinsame Wohnung. Am 3. Februar schlossen sie einen Freundschaftsvertrag mit dem Kombinat Schwarze Pumpe. Ab April 1960 arbeiteten Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann einen Tag pro Woche im Kombinat: Brigitte Reimann als Hilfsschlosser in der von Erwin Hanke geleiteten Vorzeigebrigade „10. Jahrestag“, einer Brigade von Rohrschlossern und Instandsetzungsmechanikern, Siegfried Pitschmann in der Brikettherstellung. Beide leiteten gemeinsam den Zirkel schreibender Arbeiter[10], organisierten Lesungen in Brigaden, arbeiteten an der Betriebszeitung mit und unterstützten das Arbeitertheater. Im April 1960 gewannen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann mit ihrem Hörspiel „Ein Mann steht vor der Tür“ den zweiten Preis in der Nationalen Runde des „Internationalen Hörspielwettbewerbs“. Die Erzählung „Das Geständnis“ erschien im Aufbau-Verlag, Berlin. Reimann und Pitschmann schrieben ein weiteres Hörspiel mit dem Titel „Sieben Scheffel Salz“. Gemeinsam erhielten sie am 2. Dezember 1960 die Ehrennadel in Gold „Erbauer des Kombinats Schwarze Pumpe“. Am selben Tag fand die Uraufführung des Theaterstücks „Ein Mann steht vor der Tür“ durch das Arbeitertheater des Kombinats Schwarze Pumpe statt. Brigitte Reimanns nahm mit den Schriftstellern Heinz Kruschel und Reiner Kunze Briefwechsel auf, die sie bis zu ihrem Lebensende fortführen sollte.

1961
Am 27. Januar 1961 begann Brigitte Reimann eine folgenschwere Affäre mit Hans Kerschek, Raupenfahrer im Kombinat Schwarze Pumpe und Mitglied im Zirkel schreibender Arbeiter. Die Dreiecksbeziehung blieb Siegfried Pitschmann zunächst verborgen, wurde dann aber zu einer dauerhaften Belastung für alle Beteiligten, was im Jahr 1964 mit der Scheidung Brigitte Reimanns von Siegfried Pitschmann (13.10.1964) und ihrer anschließenden Hochzeit mit Hans Kerschek (27.11.1964) endete. Die Erzählung „Ankunft im Alltag“, in der Brigitte Reimann ihre Erfahrungen im Kombinat Schwarze Pumpe, an der „Basis“ im Rahmen des „Bitterfelder Weges“ verarbeitet hatte, erschien im Verlag Neues Leben, Berlin. Nach diesem Buch wurde in der DDR das Genre der „Ankunftsliteratur“ benannt. Brigitte Reimann beendete die praktische Arbeit in der Rohrlegerbrigade des Kombinats Schwarze Pumpe. Zusammen mit Siegfried Pitschmann erhielt sie am 16. Juni 1961 den Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) für die Hörspiele „Ein Mann steht vor der Tür“ und „Sieben Scheffel Salz“. Im September reiste sie als Auszeichnung für den Gewinn im Hörspielwettbewerb gemeinsam mit Siegfried Pitschmann nach Prag.

1962
Am 21. Januar 1962 wurde das Fernsehspiel „Die Frau am Pranger“ nach Brigitte Reimanns gleichnamiger Erzählung mit großem Erfolg im Deutschen Fernsehfunk ausgestrahlt; das Drehbuch hatten Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann gemeinsam geschrieben. Anfang Juni wurde Hans Kerschek von seiner ersten Frau geschieden; Brigitte Reimann musste im Scheidungsprozess aussagen. Am 10. Juni 1962 erhielt Brigitte Reimann den Literaturpreis des FDGB für „Ankunft im Alltag“. Am 2. Juli wurde ihr ein Preis im Wettbewerb des Kulturministeriums zur Förderung der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur für „Ankunft im Alltag“ verliehen. Am 23. August begann sie mit ersten Notizen für ihren neuen Roman „Franziska Linkerhand“.

Brigitte Reimann auf der Kulturkonferenz des
Kombinates Schwarze Pumpe (1962)
Foto: Zentralarchiv VE Mining & Generation,
Schwarze Pumpe [2]


1963
Die Erzählung „Die Geschwister“ erschien im Aufbau-Verlag, Berlin. Der Architekt Hermann Henselmann las das Buch und schrieb Brigitte Reimann einen begeisterten Brief. Damit begann die Freundschaft zwischen dem DDR-Stararchitekten und der Schriftstellerin, die Reimanns Interesse an Städtebau und Architektur weckte und großen Einfluss auf ihr literarisches Werk haben sollte. Am 25. Januar 1963 legten Brigitte Reimann und der Dramaturg Lutz Kohlert eine Skizze für den gleichnamigen Film vor; der Film wurde jedoch nicht realisiert. Auch Brigitte Reimanns Erzählung „Ankunft im Alltag“ sollte verfilmt werden. Das Rohdrehbuch schloss Brigitte Reimann im Frühsommer ab; dieser Film wurde ebenfalls nicht realisiert. Brigitte Reimann wurde in den Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes gewählt. Vom 24. Juli bis zum 12. August 1963 war sie wegen einer Operation in der Berliner Charité. Im Oktober 1963 reiste Brigitte Reimann als Delegierte des Deutschen Schriftstellerverbandes auf Einladung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes mit Christa Wolf nach Moskau. Beide hatten 1963 jeweils eine Erzählung veröffentlicht, die sich mit dem Mauerbau am 13. August 1961 auseinandersetzte, deshalb sollten sie diese in Moskau gemeinsam vorstellen. Brigitte Reimann präsentierte „Die Geschwister“, Christa Wolf „Der geteilte Himmel“. Diese Reise legte den Grundstein für den Beginn der Freundschaft zwischen den sich zuvor eher weniger wohlgesonnenen Schriftstellerinnen. Ebenfalls im Oktober 1963 wurde Brigitte Reimann Mitglied der Jugendkommission beim Politbüro des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (ZK der SED), was ihr viele Türen öffnen sollte, die ihr bis dahin verschlossen geblieben waren. Vom 23. November 1963 an arbeitete sie an ihrem Roman „Franziska Linkerhand“.

1964
Im März 1964 nahm die Malerin Erika Stürmer-Alex Kontakt mit Brigitte Reimann auf, weil sie sie gern porträtieren wollte. Brigitte Reimann sagte zu und zwischen den so gegensätzlichen Künstlerinnen entstand eine Freundschaft.[11] Am 24. und 25. April nahm Brigitte Reimann an der 2. Bitterfelder Konferenz teil, die – wie bereits die 1. Bitterfelder Konferenz 1959 – im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld stattfand, aber dieses Mal nicht vom Mitteldeutschen Verlag, sondern von der Ideologischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED und dem Ministerium für Kultur veranstaltet wurde. Im Juli 1964 reiste Brigitte Reimann als Mitglied der Jugendkommission mit einer Delegation des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend nach Sibirien. Während dieser Reise wurde ihr in Zelinograd die Auszeichnung „Aktivist der Kommunistischen Arbeit“ verliehen. Nach der Scheidung von Siegfried Pitschmann am 13. Oktober 1964 heiratete sie am 27. November Hans Kerschek (Jon). Am 1. Dezember 1964 präsentierte Erika Stürmer-Alex ihr Brigitte-Reimann-Porträt erfolgreich vor der Abnahmekommission des Bezirksverbands Frankfurt (Oder) des „Verbands Bildender Künstler Deutschlands“ (VBKD).

1965
Die Reportage „Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise“ erschien im Verlag Neues Leben, Berlin. Brigitte Reimann lernte Günter de Bruyn kennen, dem sie bis zu ihrem Lebensende freundschaftlich verbunden blieb. Am 28. März 1965 wurde Brigitte Reimann für ihre Erzählung „Die Geschwister“ der Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste verliehen (der Heinrich-Mann-Preis 1965 ging außerdem an Johannes Bobrowski). Vom 14. bis 22. Mai nahm Brigitte Reimann am Internationalen Schriftstellertreffen Berlin und Weimar teil. Am 6. Oktober 1965 erhielt sie den „Carl-Blechen-Preis des Rates des Bezirkes Cottbus für Kunst, Literatur und künstlerisches Volksschaffen“. Im Dezember 1965 fand das 11. Plenum des ZK der SED statt, auf dem kritische Künstler, besonders Filmemacher, angegriffen wurden.

1966
Im Januar 1966 wurde die Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED – nach einem Skandal um Kurt Turba auf dem 11. Plenum (ausgelöst durch einen Zeitungsartikel im Neuen Deutschland vom 11. April 1965) und seiner anschließenden Entbindung von allen Funktionen – aufgelöst. Brigitte Reimann verlor damit eine wichtige Position, die ihr bis dahin einen relativ großen Spielraum in Bezug auf eine freie Meinungsäußerung gestattet hatte. Erste Pläne für einen Umzug nach Neubrandenburg entstanden 1966 während eines Besuchs bei ihrem Schriftstellerkollegen Helmut Sakowski in Neustrelitz. Dabei lernte Brigitte Reimann auch die Neubrandenburger Schriftstellerin Margarete Neumann kennen, die nach Reimanns Umzug von Hoyerswerda nach Neubrandenburg zu ihren engsten Vertrauten gehören sollte.

1967
Brigitte Reimann schrieb mit Roland Oehme und Lothar Warneke ein Drehbuch zu Günter Kähnes Roman „Martin Jalitschka heiratet nicht“. Auch dieser Film wurde nicht realisiert. Lothar Warneke sollte aber 1981 im DEFA-Film „Unser kurzes Leben“ Regie führen; der Verfilmung von Reimanns postum erschienenem Roman „Franziska Linkerhand“ (Hauptrolle: Simone Frost).

1968
Am 1. Juni 1968 unterzeichnete Brigitte Reimann mit 52 anderen Mitgliedern des Kulturbunds Hoyerswerda eine an den Staatsrat der DDR gerichtete Beschwerde, in der ein Ausbau des Zentrums von Hoyerswerda-Neustadt gefordert wurde. Im Sommer wurde bei ihr Krebs diagnostiziert; Brigitte Reimann wurde operiert. Am 20. August 1968 marschierten Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR ein; Brigitte Reimann unterschrieb nicht wie gefordert die zustimmende Erklärung des Schriftstellerverbands. Am 18. November zog sie nach Neubrandenburg in die Gartenstraße 6. Dort arbeitete Brigitte Reimann unter anderem mit der Brigade Fock beim VEB Tiefbau Neubrandenburg zusammen.

1969
Brigitte Reimann wurde Mitglied im Kreisvorstand der „Nationalen Front des demokratischen Deutschland“[12] in Neubrandenburg. Am 11. September 1969 trennten sich Brigitte Reimann und Hans Kerschek. Die Dreharbeiten für Brigitte Reimanns Dokumentarfilm „Sonntag, den … – Briefe aus einer Stadt“ begannen einen Tag nach der Trennung.

1970
Am 20. März 1970 wurde der Dokumentarfilm im II. Programm des DDR-Fernsehens als einer der ersten Farbfilme ausgestrahlt. Am 1. Juni 1970 wurden Brigitte Reimann und Hans Kerschek geschieden. Im September lernte Brigitte Reimann ihren späteren Ehemann Dr. Rudolf Burgartz kennen.

1971
Brigitte Reimanns Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Sie wechselte ständig zwischen der Wohnung in Neubrandenburg und dem Krankenhaus in Berlin-Buch, wo sie mehrfach operiert wurde. Am 14. Mai 1971 heiratete sie den Arzt Dr. Rudolf Burgartz.

1972
Obwohl Brigitte Reimann gesundheitlich kaum noch dazu in der Lage war, versuchte sie mit aller Kraft, ihren Roman „Franziska Linkerhand“ zu beenden. Es gelang ihr nicht mehr. Vom 18. August an lag Brigitte Reimann – teilweise kaum noch ansprechbar – nahezu durchgehend im Krankenhaus Berlin-Buch. Weihnachten 1972 verbrachte sie zum letzten Mal in Neubrandenburg.

1973
Ihren letzten Brief schrieb Brigitte Reimann am 15. Januar an Christa Wolf. Am 20. Februar 1973 starb Brigitte Reimann im Klinikum Berlin-Buch. Die vom Deutschen Schriftstellerverband organisierte Trauerfeier fand am 2. März auf dem Friedhof Berlin-Baumschulenweg statt. Die Trauerrede hielt Helmut Sakowski. Am 3. April wurde Brigitte Reimann in ihrer Heimatstadt Burg beerdigt.[13] Nach einer Zwischenstation auf dem Friedhof in Oranienbaum bei Dessau befinden sich Brigitte Reimanns Urne und ihr Grabstein seit dem 20. Juli 2019 wieder auf dem Ostfriedhof in Burg (Alter Teil des Friedhofes), Berliner Chaussee 139a, 39288 Burg (bei Magdeburg). Das Grab erhielt im Jahr 2020 zusätzlich eine Gedenkstele mit der Inschrift „Ich bedaure nichts“.

1974
Der unvollendete Roman „Franziska Linkerhand“ wurde von Brigitte Reimanns langjährigem Lektor Walter Lewerenz aus dem Nachlass ediert und erschien anlässlich Brigitte Reimanns Geburtstag im Juli 1974 postum im Verlag Neues Leben, Berlin.

Werke

Der Tod der schönen Helena (1955); Die Frau am Pranger (1956); Kinder von Hellas (1956); Das Geständnis (1960); Ein Mann steht vor der Tür (1960, Hörspiel, gemeinsam mit Siegfried Pitschmann); Sieben Scheffel Salz (1960, Hörspiel, gemeinsam mit Siegfried Pitschmann); Ankunft im Alltag (1961); Die Frau am Pranger (1962, Drehbuch, gemeinsam mit Siegfried Pitschmann); Die Geschwister (1963); Das grüne Licht der Steppen (1965); Sonntag, den ... (1970, Drehbuch zum Dokumentarfilm). Postum: Franziska Linkerhand (1974, 1998 ungekürzte Neuausgabe); Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern (1983); Die geliebte, die verfluchte Hoffnung (1984); Sei gegrüßt und lebe (1993, Briefwechsel mit Christa Wolf ); Briefwechsel (1994, Briefwechsel mit Hermann Henselmann); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf! (1995, Briefe an Veralore Weich, geb. Schwirtz); Ich bedaure nichts (1997, Tagebücher 1955 bis 1963); Alles schmeckt nach Abschied (1998, Tagebücher 1964 bis 1970); Eine winzige Chance (1999, Briefwechsel mit Dieter Dreßler); Katja (2003); Grüß Amsterdam (2003, Briefwechsel mit Irmgard Weinhofen, geb. Herfurth); Joe und das Mädchen auf der Lotosblume (2003); Wenn die Stunde ist, zu sprechen ... (2003); Jede Sorte von Glück (2008, Briefe an die Eltern); „Wär schön gewesen!“ (2013, Briefwechsel mit Siegfried Pitschmann); Post vom Schwarzen Schaf (2018, Briefwechsel mit den Geschwistern); „Ich möchte so gern ein Held sein“ (2018, Briefwechsel mit Wolfgang Schreyer); Die Denunziantin (2022, Erstveröffentlichung des 1953 entstandenen Romans).

Brigitte Reimanns Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Anmerkungen

[1] Willi Reimann arbeitete in einer Bank, wurde aber um 1930 arbeitslos. Er bekam einen Job als Schriftleiter in der Druckerei seines Freundes Paul Hopfer, den er bis 1943 ausübte. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft übernahm Willi Reimann 1947 bis 1950 verschiedene Hilfsjobs, bevor er 1950 wieder eine Anstellung in einer Bank fand.
[2] Das Haus wurde im Jahr 2017 abgerissen.
[3] Im Frühsommer 1951 wurde sie von Klaus schwanger, ließ das Kind aber abtreiben.
[4] „Szenen um Stalin“.
[5] Unveröffentlicht.
[6] Anna Seghers an Brigitte Reimann, 06.08.1952.
[7| Nach Beendigung des Lehrgangs blieb sie noch einige Tage im Heim in Sacrow.
[8] Unveröffentlicht. Manuskript verschollen.
[9] Erschien postum am 15. Mai 2015 im Aisthesis-Verlag Bielefeld.
[10] Mitglied des Zirkels war auch Volker Braun, der einzige, den Brigitte Reimann für wirklich begabt hielt.
[11] Das Porträt hängt heute im Literaturzentrum Neubrandenburg.
[12] Ab 1974 Namensänderung in „Nationale Front der Deutschen Demokratischen Republik“.
[13] Nach dem Tod ihres Mannes Willi Reimann († 29.09.1990) zog Elisabeth Reimann zu ihrem jüngsten Sohn Ulrich und dessen Frau nach Oranienbaum bei Dessau. Dort wurde eine Familiengrabstätte eingerichtet, in die die Urnen von Brigitte und Willi Reimann am 15. Juli 1992 überführt werden. Nach dem Tod Elisabeth Reimanns († 10.12.1992) wurde auch sie in Oranienbaum bestattet. Das liebevoll gepflegte Grab befand sich rechter Hand des Eingangstores in der Nähe der Friedhofsmauer.

Siegfried Pitschmann (1930–2002)

Siegfried Pitschmann (1956)
Foto: Privat [3]


Siegfried Pitschmann war ein deutscher Schriftsteller. Er wurde am 12. Januar 1930 im niederschlesischen Grünberg (heute: Zielona Góra) geboren. Bis Ende 1944 lebte er in Grünberg, anschließend in Mühlhausen/Thüringen, ab 1960 gemeinsam mit Brigitte Reimann in Hoyerswerda, von 1964 bis 1990 in Rostock und danach bis zu seinem Lebensende in Suhl/Thüringen. Siegfried Pitschmann erlag am 29. August 2002 nach langer Krankheit in Suhl seinem Krebsleiden. Von 1951 bis 1958 war Siegfried Pitschmann mit Elfriede Stölcker verheiratet, von 1959 bis 1964 mit Brigitte Reimann, von 1964 bis 1976 mit Birgitt Pitschmann und von 1977 bis zu seinem Tod mit Undine Pitschmann. Siegfried Pitschmann hat drei Kinder: Sohn Thomas aus erster Ehe, Tochter Nora aus der dritten Ehe und Sohn David aus der vierten Ehe.
Siegfried Pitschmann hinterließ ein schmales, aber hochkarätiges Werk, das hauptsächlich von seinen sprachlich geschliffenen und anspruchsvoll konstruierten short stories geprägt wird; ergänzt durch Drehbücher, Theaterstücke und Hörspiele. Sein Briefwechsel mit Brigitte Reimann erschien 2013 unter dem Titel „Wär schön gewesen!“, 2015 erschien anlässlich seines 85. Geburtstag, der bis dahin unveröffentlichte Roman „Erziehung eines Helden“ und ein Jahr danach die „Erzählungen aus Schwarze Pumpe“ die das Romanthema aufgreifen. Im 2017 publizierten Sonderheft „Siegfried Pitschmann in Mühlhausen“ sind bisher unveröffentlichte Texte aus dem Frühwerk des Schriftstellers enthalten.

Siegfried Pitschmann was a German writer. He was born on January 12, 1930 in Grünberg in Lower Silesia (today: Zielona Góra). He lived in Grünberg until the end of 1944, then in Mühlhausen/Thuringia, from 1960 together with Brigitte Reimann in Hoyerswerda, from 1964 to 1990 in Rostock and then in Suhl/Thuringia until the end of his life. Siegfried Pitschmann died of cancer in Suhl on August 29, 2002 after a long illness. Siegfried Pitschmann was married to Elfriede Stölcker from 1951 to 1958, to Brigitte Reimann from 1959 to 1964, to Birgitt Pitschmann from 1964 to 1976 and to Undine Pitschmann from 1977 until his death. Siegfried Pitschmann had three children: son Thomas from his first marriage, daughter Nora from his third marriage and son David from his fourth marriage.
Siegfried Pitschmann left behind a small but high-calibre oeuvre, which is mainly characterized by his linguistically polished and sophisticatedly constructed short stories, supplemented by screenplays, plays and radio plays. His correspondence with Brigitte Reimann was published in 2013 under the title „Wär schön gewesen!“ („It would have been nice!“); in 2015, on the occasion of his 85th birthday, the previously unpublished novel „Erziehung eines Helden(„Education of a Hero“) was published, followed a year later by „Erzählungen aus Schwarze Pumpe“ („Tales from Schwarze Pumpe“), which takes up the theme of the novel. The special edition „Siegfried Pitschmann in Mühlhausen“, published in 2017, contains previously unpublished texts from the writers early work.


Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann
Foto: Siegfried Thienel [4]


Lebenschronik

1930
Siegfried Daniel Pitschmann wurde am 12. Januar 1930 als zweites von insgesamt sechs Kindern des Tischlermeisters Daniel Pitschmann und seiner Frau Lucie, geborene Schmidt im niederschlesischen Grünberg (heute: Zielona Góra) geboren. Der Vater war im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden und konnte deshalb seinen Beruf nur noch eingeschränkt ausüben. Die Mutter entstammte einer alteingesessenen schlesischen Handwerker- und Lehrerfamilie. Das Wohnhaus der Familie in der Grünberger Maulbeerallee 3 (heute: Wisniowa 5) benannte Daniel Pitschmann nach seinen drei erstgeborenen Kindern Gottfried, Siegfried und Ruth „Haus Gosiru“ (später kamen noch Karl-Ernst, Erika und Dorothea hinzu).

1936
Von 1936 bis 1942 besuchte Siegfried Pitschmann die Volksschule in Grünberg, anschließend die Oberschule. Er bekam Klavierunterricht. Seine Asthma-Erkrankung erforderte immer wieder Kuraufenthalte, bei denen er unter starkem Heimweh litt. Er war ein schmaler, kränklicher und sensibler Junge; jedoch mit einer ausgesprochen guten Beobachtungsgabe und einem extrem guten Erinnerungsvermögen.

1945
Zu Beginn des Jahres 1945 wurde die Familie mit den vier Kindern Siegfried, Ruth, Karl-Ernst und Erika in einem der letzten Flüchtlingszüge, die unversehrt aus Grünberg herauskamen, evakuiert. Zwei Geschwister lebten zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr: Die kleine Schwester Dorothea war während des Krieges im Alter von elf Monaten an Ernährungsstörungen gestorben (geb. 25.09.1940, gest. 14.08.1941), der ältere Bruder Gottfried, noch nicht achtzehnjährig, in den letzten Kriegsmonaten gefallen.
Am 3. Februar 1945 durfte Familie Pitschmann den Flüchtlingszug in Mühlhausen/Thüringen endlich verlassen. Mehr als vierzehn Tage hatte die Irrfahrt durch ganz Deutschland gedauert; keine der vielen Städte, in denen der Zug angehalten hatte, hatte die Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Im Mühlhäuser Luftschutzkeller lernte Siegfried Pitschmann in den letzten Kriegstagen seinen Freund Klaus Ballin kennen. Für dessen Schwester Ingeborg – Pitschmanns erste große Liebe – verfasste er später ein Heftchen mit Liebeslyrik.
Inmitten ihrer Oberschulzeit in Mühlhausen wurden Siegfried und Ruth Pitschmann der Oberschule verwiesen, weil sie als Kinder eines Tischlermeisters nicht unter die Rubrik Arbeiter- und Bauernkinder fielen. Notgedrungen brachen beide die Oberschule ab. Auch die jüngeren Geschwister Karl-Ernst und Erika durften aus demselben Grund kein Abitur ablegen.
Siegfried Pitschmann arbeitete zunächst in der Kunstgewerbe-Tischlerei, die sein Vater in Mühlhausen mittlerweile betrieb und bei einem Bauern, um die Familie mit Kartoffeln und Rüben versorgen zu können.

1946
Im Herbst 1946 begann Siegfried Pitschmann bei dem Mühlhäuser Uhrmachermeister Arthur Rost in der Linsenstraße 13 eine Uhrmacherlehre; zunächst gehegte Pläne für eine Modelltischlerlehre oder eine Karriere als Geiger beim Mühlhäuser Sinfonieorchester hatten sich nicht erfüllt. Siegfried Pitschmann entdeckte Rainer Maria Rilke und fühlte sich ihm seelenverwandt. Später würde er sagen, er habe von ihm den besonders genauen und sorgsamen Umgang mit Sprache gelernt. Der gerade sechzehnjährige Siegfried Pitschmann reichte beim Preisausschreiben des Volksbildungsministeriums zum besten Jugendbuch Thüringens die Erzählung „Monika und Friederchen“ ein und erhielt wegen seines beachtlichen Erzähltalents dafür einen Anerkennungspreis. In der Zeitung hatte er von dem Preisausschreiben gelesen und spontan zu schreiben begonnen. Danach entstanden die „Aufzeichnungen eines Lehrlings“; ein Text von ungefähr 150 Seiten. Das Manuskript ist nicht mehr vorhanden, aber Teile aus der Erzählung hat Siegfried Pitschmann später weiterverwendet.

1949
1949 übersiedelten Siegfried Pitschmanns drei Geschwister in die Gegend von Hannover zu Verwandten. Die Eltern blieben zunächst in Mühlhausen.

1950
Pitschmann schloss 1950 erfolgreich seine Lehre ab und begann in der Werkstatt von Arthur Rost als Uhrmacher zu arbeiten. In einem privaten Kulturkreis Mühlhausens, in den er über die Vermittlung seines Freundes Klaus gekommen war, und in dem man sich alle vier Wochen zu Lesungen, Hausmusik und Gesprächen über Kunst traf, lernte er seine spätere Frau Elfriede Stölcker kennen, die aus einer alteingesessenen Mühlhäuser Gerberfamilie stammte. Elfriede Stölcker erkannte und förderte Siegfried Pitschmanns literarische Begabung. Sie stellte ihm ihre Schreibmaschine zur Verfügung. Pitschmann tippte die „Aufzeichnungen eines Lehrlings“ ab und Elfriede schickte das Manuskript an die „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren Thüringens“ (AJA) in Weimar. Pitschmann wurde sofort angenommen; der Leiter Franz Hammer und die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft waren beeindruckt von Siegfried Pitschmanns Talent. Von nun an fuhr der junge Autor regelmäßig von Mühlhausen nach Weimar zu den Tagungen des Thüringer Schriftstellerverbandes. Voller Euphorie wendete sich Siegfried Pitschmann an KuBa (Kurt Barthel), den damaligen Sekretär des Schriftstellerverbandes. Charlotte Wasser betreute dessen junge Autoren und kümmerte sich in Barthels Auftrag nun auch um Siegfried Pitschmann. Ganz inoffiziell hingegen nahm Pitschmann Kontakt zum Westberliner „Tagesspiegel“ auf, der – vermittelt über Pitschmanns Tante in Berlin-Spandau – einige seiner Texte unter Pseudonym veröffentlichte. Pitschmann erzählte außer Elfriede niemandem davon.

1951
Siegfried Pitschmanns Eltern billigten die Beziehung der der dreizehn Jahre älteren Elfriede Stölcker nicht, die zudem aus ihrer früheren Ehe zwei Söhne mit in die Beziehung brachte. Es gab heftige Kontroversen zwischen Pitschmann und seinem autoritärem Vater. Doch die selbstbewusste Elfriede ging zu Pitschmanns Eltern und hielt bei dem Vater um die Hand des Sohnes an. 1951 heirateten der einundzwanzigjährige Siegfried Pitschmann und die kunstinteressierte und weltoffene Geschäftsfrau. Die Familie lebte in einer kleinen Dachgeschosswohnung in der August-Bebel-Straße 53 in Mühlhausen. Eine ausgebaute Dachkammer, die mit der Wohnung verbunden wurde, diente Siegfried Pitschmann als Arbeitszimmer. Ende des Jahres 1951 wurde Pitschmann zum „Zweiten Deutschen Schriftstellerseminar“ im Kulturbundheim Eibenhof in Bad Saarow delegiert, wo er Bodo Uhse kennenlernte. An dem Nachwuchslehrgang des Deutschen Schriftstellerverbandes, der zehn Wochen dauerte, nahmen 22 junge Schriftsteller teil.

1952
Bodo Uhse und Günter Caspar, damals Redakteure bei der Literaturzeitschrift „Aufbau“, schickten den Jungschriftsteller 1952 mit dem Auftrag, eine Reportage zu schreiben, auf die Großbaustelle der Berliner Stalin-Allee. Es entstand Pitschmanns erste Veröffentlichung: die Erzählung „Sieben ist eine gute Zahl“; veröffentlicht im Juniheft des „Aufbau“. Der Mühlhäuser Kreisbibliothekar Hans-Joachim Weinert setzte sich ebenfalls für den begabten jungen Schriftsteller ein und ermöglichte ihm zahlreiche Lesungen.

1953
Ein Jahr später, 1953, schicke Bodo Uhse Siegfried Pitschmann auf eine weitere Reportagefahrt. Für den „Aufbau“ hatte Uhse ein Themenheft geplant, in dem es um die damals geführte kontroverse Diskussion über häusliche Erziehung versus Gruppenerziehung in Internaten gehen sollte. Siegfried Pitschmann besuchte mehrere DDR-Oberschulinternate und verarbeitete die Erlebnisse in einer Reportage. Im „Aufbau“ wurde sie nicht gedruckt, aber Uhse ermutigte Pitschmann, daraus einen literarischen Text zu machen. Die „Internatsgeschichten“ entstanden.[1]
Die Liebesgeschichte „Sieben ist eine gute Zahl“ reichte Pitschmann 1953 bei einem Preisausschreiben des Deutschen Schriftstellerverbandes mit dem Thema „Die schönste Liebesgeschichte“ ein und erhielt – gemeinsam mit drei weiteren Einsendern – einen zweiten Preis; ein erster Preis wurde nicht vergeben (Brigitte Reimann ging leer aus). Die Preisträger wurden von Anna Seghers in der kulturpolitischen Wochenzeitung „Sonntag“ vom 7. Juni 1953 bekanntgegeben und bekamen den Preis persönlich von ihr überreicht.
Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni wurden Schriftsteller gebeten, in die Betriebe zu gehen und die Stimmung festzuhalten. Siegfried Pitschmann besuchte für einige Tage die Uhrenfabrik in Ruhla – sein Metier – und schrieb eine kurze Reportage, in der er versuchte, die Arbeiter des Betriebes in einem möglichst positiven Licht darzustellen. In der Anthologie „Einen Schritt weiter“ (Thüringer Volksverlag Weimar) erschien Pitschmanns Erzählung „Eine halbe Stunde und fünf Minuten“.
Am 15. April 1953 wurde Thomas Pitschmann, der gemeinsame Sohn der Eheleute Elfriede und Siegfried Pitschmann in Mühlhausen/Th. geboren.

1954
Siegfried Pitschmann beendete 1954 seine Tätigkeit als Uhrmacher, um als freiberuflicher Schriftsteller zu arbeiten. Doch trotz seines anfänglichen Erfolges gelang es ihm nicht, vom Schreiben leben zu können. Stattdessen musste er die Demütigung ertragen, von seiner vermögenden Frau ausgehalten zu werden. Die Ehe begann zu kriseln und existierte nur noch formell, nachdem Elfriede ihren späteren Mann kennengelernt hatte. Dieser nahm nach und nach seinen Platz ein. Die Situation wurde immer unerträglicher. Siegfried Pitschmann begann zu trinken. Er verliebte sich in eine junge Lehrerin.

1957
Als 1957 auch diese Beziehung scheiterte, zog Siegfried Pitschmann die Notbremse. Er war entschlossen, sein Leben von Grund auf zu verändern und seinen eigenen selbstständigen Weg zu finden. Er hörte von einem Tag auf den anderen auf zu trinken und ging noch im August desselben Jahres auf die Großbaustelle des Kombinats Schwarze Pumpe in der Lausitz. Zu dieser Zeit sprach noch niemand vom „Bitterfelder Weg“, sondern es war Siegfried Pitschmanns eigene Idee, als Schriftsteller in die Produktion zu gehen, um so zu erfahren, wie das Leben wirklich ist. Keine Fördergelder, keine eigene Wohnung, keine Sonderkonditionen. Im Gegenteil: Pitschmann war inkognito dort und ließ sich wie alle anderen auch über die „Zentrale Arbeitskräftelenkung“ einstellen. Der Schriftsteller wurde als einfacher Betonarbeiter eingestellt, später umgeschult als Maschinist für Baumaschinen und bekam gemeinsam mit einem Kollegen ein Zimmer in Hoyerswerda zugewiesen; in der sogenannten „Zwischenbelegung“. Dabei handelte es sich um Wohnungen, die – bevor sie an Familien vermietet wurden – die Bauarbeiter von Schwarze Pumpe beherbergten. Jeweils mehrere Bauarbeiter mussten sich eine Wohnung teilen; eigene Zimmer gab es nicht. In Siegfried Pitschmanns Brigade – einer Betonbrigade des VEB Industriebau Cottbus – wusste niemand, dass er eigentlich Schriftsteller war. Erst kurz vor Weihnachten 1957 lüftete er das Geheimnis.

1958
Im Februar 1958 fand Pitschmanns vorweggenommener „Bitterfelder Weg“ unfreiwillig ein jähes Ende. Ständige Erkrankungen zwangen den körperlich nicht sehr belastbaren jungen Mann, sein „Abenteuer Schwarze Pumpe“ abrupt abzubrechen. Die sogenannte Betonkrätze und eine chronische Stirnhöhlenerkrankung machten ihm die Weiterarbeit auf dem Bau unmöglich. Trotz allem wehmütig nahm Siegfried Pitschmann Abschied: „Es war doch ein merkwürdiges Gefühl, als ich zum letztenmal an meiner guten alten, klapprigen Betonmischmaschine stand, zum letztenmal, gewissermaßen als Gast, die vertrauten Hebel herumschwenkend. Baustellenromantik, die aber mißtrauisch machen sollte; denn sie überkommt nur Gäste, Besucher, solche, die nicht oder nicht mehr dazugehören. Steht man im Prozeß drin, hat man andere Gedanken.“[2]
Günter Caspar, mittlerweile Lektor für zeitgenössische deutsche Literatur im Aufbau-Verlag, ermutigte den Schriftsteller, die Erlebnisse in Schwarze Pumpe in einem Roman zu verarbeiten und organisierte Pitschmann dafür einen Arbeitsaufenthalt im Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow. Siegfried Pitschmann genoss die Ruhe, das schöne Zimmer und die angenehmen Bedingungen in Petzow, die völlig im Kontrast zu dem standen, was er in den vorangegangenen Monaten erlebt hatte: „Das war die ehemalige Villa von Marika Rökk. [...] Das Heimleiterehepaar waren die Eltern von Christa Wolf, Familie Ihlenfeld. Otto Ihlenfeld war der Heimleiter, Frau Ihlenfeld herrschte in der Küche, dazu kamen Angestellte, die die Zimmer in Ordnung hielten, Küchenkräfte und so weiter. [...] Später gab es andere Heimleiter, die Familie Zeisberg, die dann viele, viele Jahre lang Petzow gehütet hat.“[3]
Am 3. März 1958 begann Siegfried Pitschmann in Petzow an seinem autobiografischen Roman „Erziehung eines Helden“ zu arbeiten. In dem literarischen Text, von Pitschmann selbst meist allgemein als Erzählung bezeichnet, aber eher einem Roman gleichkommend, verarbeitete der Schriftsteller seine eigenen Erlebnisse, und er siedelte sie in derselben Zeit an, in der sein eigenes Baustellenabenteuer begonnen hatte: Im Sommer und Herbst 1957. Mit einem Unterschied: Aus dem Schriftsteller wird im Roman ein Pianist. Dieser ist mit seinem Beruf als Unterhaltsmusiker unzufrieden und fühlt sich innerhalb der Gesellschaft unnütz. Die Trennung von seiner Freundin ist der entscheidende Anstoß. Er entsagt dem Alkohol von einem Tag auf den anderen und entschließt sich, einen kompletten Neuanfang zu wagen, in die harte Realität der Großbaustelle hinauszugehen. Schauplätze des Romans sind das im Bau befindliche Kombinat Schwarze Pumpe und die damalige Kleinstadt Hoyerswerda, deren Ausbau zu einer riesigen Wohnstadt für die Arbeiter des Kombinats gerade erst begonnen hatte; sowie – in Rückblenden – das malerische Dorf Weimar-Hopfgarten, in dem die Freundin des Pianisten als Lehrerin arbeitet. Es sollte eine „große Erzählung über die Abenteuer eines jungen Mannes auf einer Großbaustelle werden, der überhaupt keine Ahnung von Bau und harter körperlicher Arbeit hat, ein verkrachter Musikstudent, der große Flausen im Kopf hat und Pianist werden will. Und das Leben rüttelt ihn dort erst mal zurecht. Und das ganze sollte heißen: ‚Erziehung eines Helden‘, was natürlich ironisch gemeint war. Denn in der öffentlichen Kulturpolitikdiskussion wurde ja ständig gefragt: ‚Wo sind die Helden von heute?‘ Das wollte ich ironisch aufgreifen und unterlaufen, weil das Leben anders ist, als man uns theoretisch vorgab.“[4]
Die Ruhe in Petzow und die ungestörte Arbeit am literarischen Text fanden ein jähes Ende, als Siegfried Pitschmann im Schriftstellerheim auf Brigitte Reimann traf. Beide fühlten sich sofort seelenverwandt. Sie begannen eine Affäre. Vom 21. März 1958 an waren sie ein Paar.
Mit Pitschmanns Roman „Erziehung eines Helden“ kam es, wie es kommen musste: Der Text wurde zum vereinbarten Abgabetermin am 31. Mai 1958 nicht fertig und auch nicht zum Folgetermin im August. Lektor Günter Caspar war mit dem Text nicht zufrieden und ausgesprochen verärgert wegen der nicht eingehaltenen Abgabetermine. Die Situation führte zur ersten Krise zum den Roman und hatte Folgen. Alle kommenden Ereignisse würde Pitschmann nur als Bestätigung seiner fehlenden Begabung und seiner nicht ausreichenden Beharrlichkeit verstehen.
Ende des Jahres trennten sich Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann von ihren jeweiligen Ehepartnern: Am 27. November 1958 wurde Brigitte Reimann geschieden, am 20. Dezember Siegfried Pitschmann.

1959
Siegfried Pitschmanns Eltern übersiedelten 1959 von Mühlhausen nach Westdeutschland, wo drei ihrer Kinder bereits lebten. Siegfried Pitschmann blieb als einziges Familienmitglied in der DDR zurück.
Am 10. Februar heirateten während eines erneuten Aufenthaltes im Schriftstellerheim Petzow Brigitte Reimann und Siegfried Daniel Pitschmann in Werder bei Potsdam; einziger Hochzeitsgast war beider Lektor Günter Caspar. Eine eigene Wohnung hatte das Paar zunächst nicht; sie wohnten in Brigitte Reimanns Elternhaus in Burg.
Am 31. Juli 1959 versuchte Siegfried Pitschmann sich das Leben zu nehmen, nachdem sein Romanmanuskript „Erziehung eines Helden“ als warnendes Beispiel für den sogenannten „harten Stil“ bezeichnet und vom Schriftstellerverband in der Öffentlichkeit diffamiert worden war. Siegfried Pitschmann hatte eines nicht bedacht: Die DDR wollte ihre Autoren zu moralischen Instanzen aufbauen, die den Arbeitern und Bauern mit der „richtigen“ Literatur den Weg wiesen. Siegfried Pitschmanns ungeschminkte Schilderung der Realität auf der DDR-Vorzeigebaustelle in Schwarze widersprach dem gewünschten Idealbild. Die unverkennbare Orientierung an Ernest Hemingway, dem Vertreter der Literatur des „Klassenfeindes“, tat ein Übriges, denn genau zur selben Zeit hatte sich Erwin Strittmatter, soeben Erster Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes geworden, den Kampf gegen die „harte Schreibweise“ auf die Fahnen geschrieben. Siegfried Pitschmann hatte von der Wirklichkeit erzählen wollen und er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Wahrheit zu wahr sein würde, um veröffentlicht werden zu dürfen. Sein Selbstverständnis als Schriftsteller und sein Vertrauen in den Schriftstellerverband waren bis ins Mark erschüttert.
Eine „Aussprache“ im Sekretariat des Deutschen Schriftstellerverbandes in Berlin hatte das Fass zum Überlaufen gebracht: „Bis zu dieser Strafsitzung hatte sich das alles verdichtet, es war so eine Art Vorgefühl und Vorahnung, aber ich wusste nichts Rechtes. Es wurde immer nur hinter vorgehaltener Hand irgendwas geraunt. Irgendein Wohlmeinender, der in Wirklichkeit mein Feind oder Konkurrent war, gab mir gewisse Dinge zu verstehen. Und da war das Grinsen der Eingeweihten über mich ‚armes Würstchen‘, das noch keine Ahnung hatte. [...] Es war ein entsetzliches Abschlachten, ein Strafgericht. Für mich war in dieser einen Stunde alles aus. Etwas in mir zerbrach. Denn ich hatte meine nächste überschaubare Lebensspanne mit der Hoffnung auf dieses Buch und mit der Hoffnung auf mich selbst als Schriftsteller verbunden. [...] Ich war wirklich vollkommen verzweifelt.“[5]
Erwin Strittmatter, der bei der Vorverurteilung des Pitschmann-Romans eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, bemühte sich daraufhin, seinen Fehler wiedergutzumachen, beiden Schriftstellern neuen Mut zu geben und unterstützte sie bei den Planungen für einen Umzug nach Hoyerswerda. Der Ortswechsel und eine neue Aufgabe sollten dem jungen Schriftstellerpaar eine neue Perspektive geben. Bereits im August 1959, noch vor dem Umzug, begannen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann mit der Arbeit an dem Hörspiel „Ein Mann steht vor der Tür“, das im Kombinat Schwarze Pumpe spielen sollte.

1960
Am 6. Januar 1960 zogen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann nach Hoyerswerda in die Liselotte-Hermann-Straße 20; ihre erste gemeinsame Wohnung. Siegfried Pitschmann arbeitete jetzt – diesmal gemeinsam mit seiner Frau – zum zweiten Mal im Kombinat Schwarze Pumpe. Er betonte in seinen Lebenserinnerungen: „Aber wir sind eben nicht auf Grund der Erfindung des ‚Bitterfelder Weges‘ später nach Hoyerswerda gegangen, sondern es war meine eigene Idee. Einmal, um mir neue Lebensbereiche zu erschließen, zum anderen hatte ich auch das Gefühl, dass es für Brigitte gut wäre, wenn sie die Burger Luft wechseln und woanders hingehen würde, damit sie sich nicht in ihrem engen Lebenskreis festschreibt. So dachte ich, für sie müsse das doch hochinteressant sein, wenn sie eine aufregende Gegend wie die ‚Schwarze Pumpe‘ erkunden könnte. Die kulturpolitische Entwicklung kam uns da entgegen. Ich habe irgendwann im Schriftstellerverband verlauten lassen, dass wir an die ‚Produktionsbasis‘ gehen wollten – so hieß ja das Schlagwort. Und damit war ich hochwillkommen.“[6]
Am 3. Februar 1960 schlossen sie einen Freundschaftsvertrag mit dem Kombinat Schwarze Pumpe. Brigitte Reimann arbeitete ab April einmal wöchentlich in einer Brigade von Rohrschlossern und Instandsetzungsmechanikern als Hilfsschlosser, Siegfried Pitschmann in der Brikettherstellung des Kombinats Schwarze Pumpe. Beide leiteten gemeinsam einen „Zirkel Schreibender Arbeiter“, organisierten Lesungen in Brigaden, arbeiteten an der Betriebszeitung mit und unterstützten das Arbeitertheater. Sie nahmen rege am Kulturleben des Kombinats teil. Reimann und Pitschmann waren ein erfolgreiches Schriftstellerpaar. Im April 1960 gewannen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann mit ihrem Hörspiel „Ein Mann steht vor der Tür“ den 2. Preis im Internationalen Hörspielwettbewerb. Sie schrieben ein weiteres Hörspiel mit dem Titel „Sieben Scheffel Salz“. Gemeinsam erhielten sie am 2. Dezember die Ehrennadel in Gold „Erbauer des Kombinats Schwarze Pumpe“. Am selben Tag war die Uraufführung des Theaterstückes „Ein Mann steht vor der Tür“ durch das Arbeitertheater des Kombinates Schwarze Pumpe.

1961
Am 27. Januar 1961 begann Brigitte Reimann eine folgenschwere Affäre mit Hans Kerschek, Raupenfahrer im Kombinat Schwarze Pumpe. Siegfried Pitschmann ahnte zunächst nichts. Am 16. Juni erhielten Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann den Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) für die gemeinsamen Hörspiele „Ein Mann steht vor der Tür“ und „Sieben Scheffel Salz“. Im September reisten das gefeierte Schriftstellerehepaar als Belohnung für den Erfolg beim Internationalen Hörspielwettbewerb nach Prag. Siegfried Pitschmanns erste eigene Buchveröffentlichung, der Erzählband „Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns“ (gewidmet Brigitte Reimann), erschien im Aufbau-Verlag.

1962
Am 21. Januar 1962 wurde das Fernsehspiel „Die Frau am Pranger“ nach Brigitte Reimanns gleichnamiger Erzählung mit großem Erfolg im Deutschen Fernsehfunk ausgestrahlt; das Drehbuch hatten Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann gemeinsam geschrieben. In der „Kleinen Jugendreihe“ des Verlages Kultur und Fortschritt Berlin erschien als 23. Heft des Jahres Pitschmanns Erzählung „Das Netz“. Dabei handelte es sich um die stark bearbeitete Fassung des dritten Romankapitels „Neuling im Netz“ aus Pitschmanns damals unveröffentlichtem Roman „Erziehung eines Helden“. Zu Pitschmanns Arbeitsprinzip gehörte es, die Manuskripte veröffentlichter Texte inklusive aller früheren Fassungen zu vernichten. Von seinen unveröffentlichten Texten hingegen sind viele Manuskripte erhalten geblieben; teilweise in verschiedenen Bearbeitungsstufen und Versionen.

1964
Die Ehe mit Brigitte Reimann brachte Siegfried Pitschmann kein langfristiges privates Glück. Als er am 2. Januar für zwei Monate nach Petzow ins Schriftstellerheim fuhr, wusste er, dass er sich von Brigitte Reimann trennen und nicht nach Hoyerswerda zurückkehren würde. Die jahrelange Dreiecksbeziehung hatte seine Kräfte zermürbt. Doch im Schriftstellerheim konnte Siegfried Pitschmann nicht dauerhaft wohnen bleiben. Sein Kollege Dieter Noll, dem die dramatische Wendung in der Ehe seines Freundes nicht verborgen geblieben war, bot ihm Hilfe an. Er besaß einen Garten an einem See in Königs Wusterhausen bei Berlin, in dem ein alter Wohnwagen stand, der früher Artisten gehört hatte; die sogenannte „Karre“, in der sich Pitschmann trotz der spartanischen Umgebung ausgesprochen wohl und genügend abgeschottet von allen äußeren Einflüssen fühlte. Ostern zog Pitschmann in seine provisorische Behausung ein und verbrachte den ganzen Sommer dort. Ab Herbst 1964 konnte Siegfried Pitschmann wieder im Petzower Schriftstellerheim wohnen und dort sogar seine Hoyerswerdaer Möbel unterstellen. Am 13. Oktober wurden Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann geschieden. Pitschmann legte die „Erziehung eines Helden“ (Aisthesis, 2015) endgültig auf Eis und begann seinen neuen Roman mit dem Arbeitstitel „Reise des Lodekind“. Der Roman blieb unvollendet; Pitschmann wollte es nach dem Debakel um „Erziehung eines Helden“ bis zu seinem Lebensende nicht mehr gelingen, unbelastet zu schreiben. Bei Dieter Noll hatte Siegfried Pitschmann ein junges Mädchen kennengelernt. Sie war Anfang zwanzig, stammte aus Rostock und arbeitete in der Staatsbibliothek in Ostberlin. Birgitt und Siegfried Pitschmann heirateten am 29. Dezember 1964.


Siegfried Pitschmann bei einer Lesung im
Kombinat Schwarze Pumpe (1964)
Foto: Zentralarchiv VE Mining & Generation,
Schwarze Pumpe [5]


1965
Am 30. März 1965 zog Pitschmann mit seiner Frau nach Rostock, wo ihnen eine kleine Zweizimmer-Neubauwohnung zugewiesen worden war. Pitschmann trat die Nachfolge von Johann Wesolek an und wurde Vorsitzender des Schriftstellerverbandes des Bezirkes Rostock an und betreute auch die „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ (AJA) des Bezirkes. Die ehrenamtliche Funktion ließ ihm kaum Zeit zum Schreiben.

1968
Siegfried Pitschmanns zweite Buchveröffentlichung, der Erzählband „Kontrapunkte“, erschien 1968 im Aufbau-Verlag.

1969
Tochter Nora kam am 6. August 1969 in Rostock zur Welt.

1970
„Kontrapunkte“ wurde 1970 in polnischer Übersetzung unter dem Titel „Kontrapunkty“ im Panstwowy Instytut Wydawniczy veröffentlicht.

1974
Siegfried Pitschmann recherchierte im Wissenschaftler-Milieu und schrieb die Erzählung „Fünf Versuche über Uwe“, die Lothar Warneke 1974 unter dem Titel „Leben mit Uwe“ verfilmte (Drehbuch: Lothar Warneke und Siegfried Pitschmann). Die erste Auflage des Erzählbandes „Männer mit Frauen“ erschien innerhalb der Reihe „bb“ des Aufbau-Verlages.

1975
Siegfried Pitschmann begann 1975 bei Hanns Anselm Perten am Volkstheater Rostock als künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter und als Dramaturg zu arbeiten. Die drei Einakter „Die Wassertreter“, „Blaue Trambahnen“ und „Die Aviatiker“ erschienen unter dem Titel „Er und Sie. Drei Studien für Schauspieler und Publikum“ im Aufbau-Verlag.

1976
1976 wurde Siegfried Pitschmanns dritte Ehe geschieden. Die Theaterfassung von „Er und Sie“ wurde am Volkstheater Rostock uraufgeführt und fünfzigmal mit großem Erfolg gespielt. Siegfried Pitschmann erhielt den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR.

1977
Am 7. Januar 1977 heiratete Siegfried Pitschmann ein viertes und letztes Mal.

1978
Die zweite Auflage des Erzählbandes „Männer mit Frauen“ erschien 1978. Siegfried Pitschmann erhielt den Louis-Fürnberg-Preis. Als Studiogastspiel des Volkstheaters Rostock wurden – unter der Fernsehregie von Wolfram Suckau – die Theaterstücke „Die Wassertreter“ und „Die Aviatiker“ am 12. Februar im II. Programm des DDR-Fernsehens ausgestrahlt; am 25. März „Die Aviatiker“ im I. Programm (Wiederholung am 1. November 1979).

1982
Siegfried Pitschmann nahm 1982 gemeinsam mit Volker Braun, Werner Heiduczek und anderen an einem einjährigen Weiterbildungskurs des Literaturinstituts „Johannes R. Becher“ in Leipzig teil. Jeweils eine Woche im Monat waren die Teilnehmer in Leipzig. Der Kurs wurde von Max Walter Schulz geleitet. Der Erzählband „Auszug des verlorenen Sohns“ erschien bei Reclam Leipzig.

1983
Siegfried Pitschmanns zweiter Sohn David wurde am 1. Juli 1983 geboren.

1989
Ab Mai 1989 wurde Siegfried Pitschmann auf Grund seiner gesundheitlichen Probleme Invalidenrentner. In Katharina Schuberts Dokumentarfilm „Ich habe gelebt und gelebt und gelebt“ gab Siegfried Pitschmann in mehreren Interviews freimütig Auskunft über seine gemeinsame Zeit mit Brigitte Reimann.
Im Einvernehmen mit seiner Frau Undine Pitschmann kehrte Siegfried Pitschmann Ende 1989 allein nach Thüringen zurück. Pitschmann liebte seine Frau, doch er brauchte das Alleinsein mehr als die räumliche Nähe. Die Wahl fiel auf Suhl, weil es Pitschmanns Kollegen Landolf Scherzer gelang, ihm dort eine Wohnung zu organisieren. In Suhl lebte Siegfried Pitschmann in einer kleinen Zweizimmerwohnung in einem Neubaublock in der Rimbachstraße 11 und zog sich zunächst für zwei Jahre von der Öffentlichkeit zurück.

1992
Siegfried Pitschmann wurde 1992 Vorstandsmitglied der „Literarischen Gesellschaft Thüringen“ und setzte sich kontinuierlich für junge Autoren ein.

1993
Am 4. Dezember 1993 kehrte Siegfried Pitschmann ein letztes Mal nach Hoyerswerda zurück und hielt zum „Tag der heiligen Barbara“, dem Festtag der Bergleute, eine viel beachtete Rede, bei der er auch an Brigitte Reimann erinnerte.[7]

1999
Siegfried Pitschmann gab 1999 in Sabine Ranzingers Feature „Und trotzdem haben wir immerzu geträumt davon“ Auskunft über Leben, Lieben und Arbeiten mit Brigitte Reimann.

2000
Anlässlich Siegfried Pitschmanns siebzigstem Geburtstag publizierte der Aufbau-Verlag im Jahr 2000 den Erzählband „Elvis feiert Geburtstag“.

2001
Im Oktober 2001 sprach Siegfried Pitschmann seine Lebenserinnerungen auf Band. Marie-Elisabeth Lüdde, Oberkirchenrätin und gute Freundin in Pitschmanns letzten Lebensjahren, hatte die Idee gehabt und führte die Interviews mit ihm; eine ganze Woche lang. Es entstanden fünfzehn Stunden Tonbandprotokoll.[8]

2002
Am 29. August 2002 starb Siegfried Pitschmann in Suhl. Auf seinen Wunsch hin wurde er in Mühlhausen beerdigt. Die Trauerfeier mit anschließender Urnenbeisetzung fand am 27. September auf dem Neuen Friedhof in Mühlhausen statt. Die Trauerrede hielt Marie-Elisabeth Lüdde. 2004 gab sie unter dem Titel „Verlustanzeige“ postum – wie mit Pitschmann vereinbart – die 2001 entstandenen Tonbandprotokolle als Buch heraus. Der Nachlass Siegfried Pitschmanns befindet sich seit Oktober 2008 als Dauerleihgabe im Literaturzentrum Neubrandenburg.


Werke

Ein Mann steht vor der Tür (1960, Hörspiel, gemeinsam mit Brigitte Reimann); Sieben Scheffel Salz (1960, Hörspiel, gemeinsam mit Brigitte Reimann); Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns (1961); Die Frau am Pranger (1962, Drehbuch, gemeinsam mit Brigitte Reimann); Das Netz (1962); Kontrapunkte (1968, polnisch 1970); Der glückliche Zimpel, die Frau und die Flugzeuge (1973, Hörspiel); Leben mit Uwe (1974, Szenarium zum DEFA-Film von Lothar Warneke); Männer mit Frauen (1974); Er und Sie : drei Studien für Schauspieler und Publikum (1975 Buch; 1976 Theaterstück); Auszug des verlorenen Sohns (1982); „Und trotzdem haben wir immerzu geträumt davon“. Siegfried Pitschmann über Leben, Lieben und Arbeiten mit Brigitte Reimann (1999, Feature von Sabine Ranzinger); Elvis feiert Geburtstag (2000).
Postum: Verlustanzeige (2004); Vier Erzählungen (2004); Schreiben und Erzählen (2012); „Wär schön gewesen!“ (2013, Briefwechsel mit Brigitte Reimann); Erziehung eines Helden (2015); Erzählungen aus Schwarze Pumpe (2016); Siegfried Pitschmann in Mühlhausen (2017).


Anmerkungen

[1] Fragment. Unveröffentlicht.
[2] Siegfried Pitschmann an Günter Caspar. – 03.03.1958. – Archiv Aufbau, SBB IIIA Dep38 1238 0067.
[3] Siegfried Pitschmann in einem Interview mit Marie-Elisabeth Lüdde im Oktober 2001. – In: Verlustanzeige. – Weimar : Wartburg-Verlag, 2004. – Seite 55-56.
[4] Verlustanzeige. – Seite 54-55.
[5] Verlustanzeige. – Seite 78-80.
[6] Verlustanzeige. – Seite 76.
[7] In der vollständigen Originalfassung veröffentlicht im Band „Erzählungen aus Schwarze Pumpe“.
[8] 2004 wurde der autobiografische Bericht unter dem Titel „Verlustanzeige“ wie vereinbart postum veröffentlicht.

Wolfgang Schreyer (1927–2017)

Wolfgang Schreyer (1963)
Foto: Privat [9]


Wolfgang Schreyer war ein deutscher Schriftsteller. Er wurde am 20. November 1927 in Magdeburg geboren. Am 14. November 2017 starb Wolfgang Schreyer in Ahrenshoop. Er war eng mit Brigitte Reimann befreundet. Wolfgang Schreyers Briefwechsel mit Brigitte Reimann erschien 2018 unter dem Titel „Ich wär so gern ein Held“.
Wolfgang Schreyer war einer der bekanntesten und erfolgreichsten Abenteuerschriftsteller und Krimi-Autoren in der DDR. Mehrere seiner Romane wurden erfolgreich von der DEFA verfilmt.

Wolfgang Schreyer was a German writer. He was born on November 20, 1927 in Magdeburg. Wolfgang Schreyer died in Ahrenshoop on November 14, 2017. He was a close friend of Brigitte Reimann. Wolfgang Schreyers correspondence with Brigitte Reimann was published in 2018 under the title „Ich wär so gern ein Held“.
Wolfgang Schreyer was one of the best-known and most successful adventure and crime writers in the GDR. Several of his novels were successfully filmed by DEFA.

Lebenschronik

1927
Wolfgang Schreyer wurde am 20. November in Magdeburg als erstes von zwei Kindern des Drogisten und Fotografen Franz Schreyer und seiner Frau Rose Lucie geboren.

1937
Wolfgang Schreyer trat in Hitlers Jungvolk ein, übersprang ein Grundschuljahr und besuchte bereits mit neun Jahren das Realgymnasium; die Wilhelm-Raabe-Schule in Magdeburg.

1938
Am 1. Juni wurde Wolfgang Schreyers Bruder Bernd geboren.[1]

1943
Im Februar wurde Wolfgang Schreyer als Flakhelfer im Raum Magdeburg dienstverpflichtet.

1944
Wolfgang Schreyer erhielt im September als Mitglied der „Flakbatterie 205/IV“ sein Abschlusszeugnis, kam anschließend zum „Reichsarbeitsdienst“, wurde in den letzten Kriegsmonaten einberufen und anschließend nach einem, für Gymnasiasten obligatorischen, Offiziersanwärter-Training in Dänemark an die Westfront versetzt. Bereits während der Schulzeit hatte Schreyer zu schreiben begonnen. Das militärische Geschehen des Zweiten Weltkrieges beflügelte seine Phantasie. Er schilderte Kampfhandlungen und Feldzüge und illustrierte seine Berichte mit Kartenbildern. Glaubwürdigkeit war sein oberstes Prinzip; als Quellen dienten ihm heimatliche Quellen genauso wie die „Feindsender“.

1945
Bei Kriegsende galt Schreyers Vater als vermisst (gestorben am 13. Januar 1946 in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Sapogowo bei Kursk), die elterliche Fotodrogerie war im Januar 1945 beim Bombenangriff auf Magdeburg zerstört worden. Die Mutter eröffnete in einem ehemaligen Tante-Emma-Laden ein neues Drogeriegeschäft.

1946
Schreyers Reifezeugnis wurde nicht anerkannt; er musste nach seiner Entlassung aus der neun Monate währenden amerikanischen Kriegsgefangenschaft 1946/47 noch ein weiteres Schuljahr fürs Abitur absolvieren. Eine Denunziation beim NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) brachte ihm jedoch eine achtwöchige Haftstrafe ein. Das Abitur war damit passé, Schreyer verzichtete aufs Nachschreiben der Prüfungen.

1947
Stattdessen machte Wolfgang Schreyer von 1947 bis 1949 eine Drogistenlehre und arbeitete bis 1951 im Familiengeschäft. Dort verliebte er sich in die drei Jahre ältere Drogistin Charlotte König (geboren am 11. November 1924), die – von Wolfgang Schreyers Vater als fünfzehnjähriges Lehrmädchen eingestellt – bereits seit sieben Jahren im Geschäft der Familie Schreyer arbeitete.

1952
Am 21. Juni heirateten Charlotte König und Wolfgang Schreyer. Mit Unterstützung des Kulturamtes Magdeburg und seines künftigen Stammverlages, dem Verlag „Das Neue Berlin“, war Schreyer jetzt freiberuflicher Schriftsteller. 1952 erschien sein erster Roman.

1953
Brigitte Reimann trat in die „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ (AJA) des Bezirkes Magdeburg ein; ihre Freundschaft mit Wolfgang Schreyer begann. Am 25. Dezember bekamen Charlotte und Wolfgang Schreyer ihr erstes Kind, Tochter Susanne.

1954
Mit „Unternehmen Thunderstorm“ gelang Schreyer der literarische Durchbruch. Wolfgang Schreyer, nun Mitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes, sollte einer der erfolgreichsten Abenteuerschriftsteller der DDR werden.

1956
Am 25. Mai wurde Wolfgang Schreyer (gemeinsam mit Franz Fühmann und Rudolf Fischer) der Heinrich-Mann-Preis verliehen.

1959
Wolfgang Schreyers Mutter starb im Alter von 57 Jahren an Krebs.

1963
Wolfgang Schreyer kaufte vom Vorbesitzer – dem Regisseur Kurt Maetzig – ein Haus in Ahrenshoop und nutzte es zunächst als Sommerhaus. Sohn Robert wurde am 16. Dezember geboren.

1965
Tochter Sabine (gemeinsam mit Ingrid Mittelstrass) wurde geboren.

1972
Ahrenshoop wurde zum festen Wohnsitz von Wolfgang Schreyer und Ingrid Mittelstrass (geboren am 19. November 1944). Der offizielle Familiensitz im Magdeburger Birkenweg 24 bestand jedoch zunächst auch nach 1972 weiter; jedes Jahr verbrachte Wolfgang Schreyer mehrere Wochen dort.

1977
Sohn Paul (gemeinsam mit Ingrid Mittelstrass) wurde geboren.

1989
Im Oktober wurde die Ehe von Charlotte und Wolfgang Schreyer geschieden.

1990
Am 13. Januar heirateten Wolfgang Schreyer und Ingrid Mittelstrass.

1997
Charlotte Schreyer erkrankte an Alzheimer und zog zu ihrer Tochter Susanne nach Ahrenshoop. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 blieb Wolfgang Schreyer mit Charlotte eng verbunden, versuchte, ihr mit täglichen Besuchen, gemeinsamen Spaziergängen und im behutsamen Umgang miteinander einen würdevollen Abschied vom Leben zu geben.

2017
Am 14. November, eine Woche vor seinem neunzigsten Geburtstag, erlag Wolfgang Schreyer seinem Krebsleiden.
 

Werke

Großgarage Südwest (1952); Mit Kräuterschnaps und Gottvertrauen (1953); Unternehmen Thunderstorm (1954); Die Banknote (1955); Der Befehl (1956, Hörspiel); Schüsse über der Ostsee (1956); Der Traum des Hauptmann Loy (1956, als Film 1961); Das Attentat (1957, im selben Jahr auch als Hörspiel); Der Spion von Akrotiri (1957); Das grüne Ungeheuer (1959, zweite Fassung unter dem Titel „Der grüne Papst“ 1961, als Film 1962); Alaskafüchse (1959, als Film 1964); Tempel des Satans (1960, als Film 1962); Entscheidung an der Weichsel (1960); Die Piratenchronik (1961, zweite Fassung unter dem Titel „Augen am Himmel 1967); Vampire, Tyrannen, Rebellen (1963); Preludio 11 (1964, als Film 1963); Fremder im Paradies (1966, als Schauspiel 1967, als Film 1975); Aufstand des Sisyphos (1969, gemeinsam mit Jürgen Hell); Der gelbe Hai (1969; gewidmet Stefan Heym); Die Bananengangster (1970); Der Adjutant – Dominikanische Tragödie I (1971, als Film 1972); Der Resident – Dominikanische Tragödie II (1973); Die Liebe zur Opposition (nach Motiven des Romans „Der Adjutant“) (als Schauspiel 1974; als Buchausgabe unter dem Titel: Tod des Chefs oder die Liebe zur Opposition, 1975); Schwarzer Dezember (1977); Die Entführung (1979, Erzählungen); Der Reporter – Dominikanische Tragödie III (1980); Die Suche oder die Abenteuer des Uwe Reuss (1981); Eiskalt im Paradies (1982); Die fünf Leben des Dr. Gundlach (1982); Der sechste Sinn (1987); Der Mann auf den Klippen (1987); Der Fund oder die Abenteuer des Uwe Reuss (1987); Unabwendbar (1988); Endzeit der Sieger (1989); Die Beute (1989); Alpträume (1991, Erzählungen); Nebel (1991); Das Quartett (1994); Der zweite Mann (2000, Autobiografie); Der Verlust oder die Abenteuer des Uwe Reuss (2001); Das Kurhaus (2002); Die Legende (2006, gemeinsam mit dem Sohn Paul Schreyer); Ahrenshooper Begegnungen. Ein Haus am Meer und seine Gäste (2008, Erzählungen); Der Leuchtturm (2009); Die Verführung (2010, Erzählungen); Der Feind im Haus (2011); Zu guter Letzt (2016, Erzählungen, Erinnerungen und Essays). Postum: „Ich möchte so gern ein Held sein“ – Briefwechsel mit Brigitte Reimann (2018).

Anmerkungen

[1] Bernd Schreyer begann mit 14 Jahren eine Lehre im Mansfelder Kupferschiefer-Bergbau, ging später zur Nationalen Volksarmee und dann als Geologie-Ingenieur in den Irak (erste Frau Erika, zweite Frau Renate).

Reiner Kunze (geb. 1933)

Reiner Kunze (1970)
Foto: Privat [8]


Reiner Kunze wurde am 16. August 1933 in der erzgebirgischen Kleinstadt Oelsnitz geboren. Seit 1978 lebt er im bayerischen Obernzell-Erlau.

Reiner Kunze war mit Brigitte Reimann befreundet. Seine Briefe an Brigitte Reimann erschienen 2017 unter dem Titel „So gut wie möglich Kunst (Literatur) machen, Brigitte, das ist uns aufgetragen“. Brigitte Reimanns Briefe an Reiner Kunze sind leider nicht erhalten geblieben.
Reiner Kunzes Lyrik und Prosa wurde in dreißig Sprachen übersetzt; er selbst übersetzte aus dem Tschechischen ins Deutsche und schuf zahlreiche Nachdichtungen tschechischer Lyrik.
2018 erschien anlässlich Reiner Kunzes 85. Geburtstag in der Edition Toni Pongratz der Essay „Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen“, 2023 anlässlich seines 90. Geburtstags der Essay „Der Mann mit dem Blitz im Namen“.

Reiner Kunze was a friend of Brigitte Reimann. His letters to Brigitte Reimann were published in 2017 under the title „Making art (literature) as well as possible, Brigitte, that is our task“. Unfortunately, Brigitte Reimann's letters to Reiner Kunze have not been preserved.
Reiner Kunzes poetry and prose has been translated into thirty languages; he himself translated from Czech into German and created numerous adaptations of Czech poetry.
In 2018, the essay „Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen“ was published by Edition Toni Pongratz to mark Reiner Kunzes 85th birthday, in 2023 „Der Mann mit dem Blitz im Namen“.

Lebenschronik

1933
Reiner Kunze wurde am 16. August in der erzgebirgischen Kleinstadt Oelsnitz als Sohn des Steinkohle-Bergarbeiters Ernst Kunze und der in der Strumpfindustrie beschäftigten Heimarbeiterin Martha Kunze geboren. Bereits als Kind erkrankte Reiner Kunze schwer: Ein endogenes Ekzem am ganzen Körper verhinderte eine normale Kindheit und grenzte ihn von den anderen Kindern ab. Dazu kam chronisches Asthma. Im einfachen, aber liebevollen Elternhaus fühlte sich Reiner Kunze sicher aufgehoben. Die Volkslieder, die seine Mutter häufig sang, prägten seine lyrische Veranlagung.

1949
Von 1949 bis 1951 besuchte Reiner Kunze eine Aufbauklasse für Arbeiterkinder an der Oberschule in Stollberg/Erzgebirge. Eines Tages holte der Rektor der Oberschule, Fritz Bellmann, Reiner Kunze aus dem Unterricht und eröffnete ihm, dass er ihn als Kandidat der SED vorzuschlagen gedachte, was der sechzehnjährige Internatsschüler als eine Ehre empfand.

1950
Am 1. Juni trat Reiner Kunze als Kandidat in die SED ein.

1951
Reiner Kunze legte das Abitur ab. Von 1951 bis 1955 studierte er Philosophie und Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig.

1953
Kunze veröffentlichte in der Zeitschrift „Neue deutsche Literatur“ erste Gedichte.

1954
Reiner Kunze absolvierte im Rahmen des Studiums ein Praktikum bei der Magdeburger „Volksstimme“. Er wurde für besonders gute Reportagen gelobt und durfte zeitweilig die Kreisredaktion Haldensleben selbstständig leiten. In dieser Zeit war Reiner Kunze Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ (AJA) des Bezirkes Magdeburg und lernte dort auch Brigitte Reimann kennen.

1955
Nach dem Studium bekam Reiner Kunze an der Fakultät für Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig eine Assistentenstelle mit Lehrauftrag. Kunze trat in den Journalistenverband ein und wurde in den Schriftstellerverband der DDR aufgenommen. Reiner Kunze heiratete und bekam gemeinsam mit seiner Frau Ingeborg den Sohn Ludwig (die Ehe wurde im April 1960 geschieden).

1959
Reiner Kunze musste – wenige Wochen vor der Promotion – die Universität aus politischen Gründen verlassen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war Kunzes Rede auf einer FDJ-Versammlung am 8. Februar, in der er die allgegenwärtige Schönfärberei an der Fakultät öffentlich kritisierte. Kunze wurde außerdem vorgeworfen, er würde die Studenten entpolitisieren und selbst konterrevolutionäre Verbindungen unterhalten. Eine große Öffentlichkeit erreichte im Juni 1959 eine Sendung des Berliner Rundfunks, in der Liebesgedichte von Reiner Kunze ausgestrahlt wurden, dessen erster Lyrikband „Vögel über dem Tau“ in jenem Jahr erschienen war. Eine junge deutsch-tschechische Ärztin hörte im Juni die Lyriksendung im Berliner Rundfunk. Sie bat in perfektem Deutsch – den falschen Rundfunksender – um die Zusendung des Gedichts „Das Märchen vom Fliedermädchen“. Auf Umwegen erreichte ihre Karte fast ein halbes Jahr später den Fliedermädchen-Dichter. Die junge Fachärztin für Kieferorthopädie Elisabeth Littnerová und der Lyriker Reiner Kunze verliebten sich ineinander – obwohl sich ihre Beziehung wegen der geschlossenen Grenzen ausschließlich auf die Korrespondenz beschränken musste. Ein telefonisch bejahter Heiratsantrag und eine Lesung in Aussig, zu der Reiner Kunze auf Vermittlung von Elisabeth Littnerová eingeladen wurde, waren der Schlüssel zur ersten persönlichen Begegnung.

Kunzes erotische Liebesgedichte widersprachen nach Meinung der DDR-Kulturoberen genauso wie Siegfried Pitschmanns Schwarze-Pumpe-Roman „Erziehung eines Helden“ dem gerade beschlossenen Bitterfelder Weg. Am 9. Juni wurde gegen den unliebsamen Assistenten, der inzwischen seine Kündigung eingereicht hatte, ein Parteiverfahren eröffnet; ein Tribunal, das jenem glich, das nur einen Monat später auch seinen Schriftstellerkollegen Siegfried Pitschmann treffen und diesen in einen Selbstmordversuch treiben sollte. Kunze brach mit der sozialistischen Ideologie, ohne dies jedoch vorerst – aus Rücksicht auf die mit ihm befreundete Sibylle-Chefredakteurin Edith Nell (Witwe des Schriftstellers Peter Nell) und seinen Dekan Hermann Budzislawski – mit dem eigentlich notwendigen Schritt des Parteiaustritts zu untermauern (das sollte Reiner Kunze erst im Jahr 1968 tun). Reiner Kunze ging von 1959 bis 1961 als Hilfsschlosser in den VEB Schwermaschinenbau Verlade- und Transportanlagenbau (VTA) Leipzig. Tagsüber montierte er Achsen für Schreitbagger, nachts schrieb er.

1961
Der Schriftsteller Kunze war genauso wenig wie sein Kollege Pitschmann für den rauhen Alltag in der Produktion geschaffen. Nach wenigen Monaten im VTA war seine Gesundheit ruiniert. Rettung verschaffte Erwin Strittmatters Fürsprache, die Kunze die Möglichkeit eröffnete, sich mit der Ausbildung von Nachwuchsschriftstellern in Berlin einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen. Reiner und Elisabeth Kunze heirateten am 8. Juli in Aussig.

1962
Im Juni zogen Elisabeth und Reiner Kunze gemeinsam nach Greiz in Thüringen. Elisabeth brachte aus erster Ehe ihre Tochter Marcela mit. Das Gehalt der Ärztin, die als Kieferorthopädin in der Kreisjugendzahnklinik und als Kieferchirurgin im Kreiskrankenhaus Greiz arbeitete, sicherte das Familieneinkommen. Ab 1962 arbeitete Reiner Kunze als freiberuflicher Schriftsteller, veröffentlichte seit 1963 auch in der Bundesrepublik. Die Veröffentlichungen wurden zwar offiziell vom Büro für Urheberrechte der DDR genehmigt, waren den Funktionären aber dennoch stets ein Dorn im Auge. Neben dem Schreiben eigener Gedichte spezialisierte sich Kunze auf Nachdichtungen tschechischer und slowakischer Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke der Autoren Ludvík und Milan Kundera, Vladimír Holan, Miroslav Holub, František Hrubín, Jaroslav Seifert und vor allem Jan Skácels.

1968
Reiner Kunze erhielt – für den 1967 bei Merlin Hamburg erschienenen Band „Fährgeld für Charon“ mit 80 ins Deutsche übertragenen Gedichten Jan Skácels – in Prag den Übersetzerpreis des tschechischen Schriftstellerverbandes. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei am 21. August und der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings durch die Warschauer Pakt-Staaten wurde der tschechische Schriftstellerverband aufgelöst, kritische Autoren erhielten Berufsverbot oder wurden in die Produktion zwangsverpflichtet. Kunze vollzog nun auch de jure den längst ideell vollzogenen Austritt aus der SED und gab am 26. August sein Parteibuch zurück. Am 19. November wurde er wegen „parteifeindlichen Verhaltens“ aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ausgeschlossen. Das Ministerium für Staatssicherheit legte unter dem Decknamen „Lyrik“ eine Akte über Reiner Kunze an.

1969
Mit dem Lyrikband „sensible wege“, der im Frühjahr 1969 bei Rowohlt erschien, gelang Reiner Kunze im Westen der literarische Durchbruch, aber der Band machte ihn in der DDR endgültig zur persona non grata. Auf dem Schriftstellerkongress in Berlin vom 28. bis 30. Mai wurden Reiner Kunze für „sensible wege“ und Christa Wolf für „Nachdenken über Christa T.“ von Max Walter Schulz abgeurteilt. Reiner Kunze wurde in den darauf folgenden Jahren fast nur noch von kirchlichen Kreisen zu Lesungen eingeladen, oder seine Lesungen wurden boykottiert, Verlagsverträge wurden gekündigt, sein Name wurde nicht mehr erwähnt.

1973
Dass dennoch der Band „Brief mit blauem Siegel“ bei Reclam Leipzig erschien, war eine kleine Sensation. Die erste und die zweite Auflage von je 15.000 Exemplaren waren innerhalb von Stunden ausverkauft. Viele derjenigen, die vergebens versucht hatten, ein Exemplar zu bekommen, begannen sogar, das Buch mit der Hand oder der Schreibmaschine abzuschreiben. Nur wenige Wochen später, nach Reiner Kunzes München-Reise anlässlich der Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, wendete sich das Blatt wieder. Parteifunktionäre setzten auf Kommando der Dogmatiker in Politbüro und Staatssicherheitsdienst zu einer Treibjagd auf den Autor und seine Familie an, von der sogar Leser des Buches „Brief mit blauem Siegel“ nicht ausgenommen wurden. Reiner Kunze erinnert sich: „Die Ablösung Ulbrichts durch den wesentlich jüngeren Erich Honecker an der Staatsspitze der DDR bedeutete u. a., dass jüngere Parteifunktionäre, die aus der Freien Deutschen Jugend kamen, in Regierungsämter gelangten, z. B. der stellvertretende Minister für Kultur, Kurt Löffler. Manche dieser Funktionäre wollten ein besseres Verhältnis zu den Künstlern und Schriftstellern herstellen und versuchten, auf kulturellem Gebiet eine begrenzte Liberalität durchzusetzen. Kurt Löffler besuchte uns in Greiz und sagte wörtlich, die Partei habe Fehler gemacht, die man künftig vermeiden wolle. Er bat mich, zu helfen. So kam es zum Erscheinen des Gedichtbandes ‚Brief mit blauem Siegel‘ und zu der Zusage, das Kinderbuch ‚Der Löwe Leopold‘ auch in der DDR zu veröffentlichen. Doch die Dogmatiker im Politbüro und im Schriftstellerverband, vor allem aber die Funktionäre an der Parteibasis verwahrten sich energisch gegen diesen ‚Verrat am Sozialismus‘. Es handelte sich also um einen innerparteilichen ideologischen Richtungskampf, in dem die ‚Löfflers‘ alsbald resignierten oder Selbstkritik übten. Den Gedichtband durchzusetzen, war ihnen gelungen, die 15.000 fertigen Exemplare der DDR-Ausgabe des ‚Löwen Leopold‘ wurden jedoch eingestampft.“

1976
Am 8. September erschien Reiner Kunzes Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ bei S. Fischer in Frankfurt am Main. Das Buch wurde ein sensationeller Erfolg und verkaufte sich mehr als eine halbe Million mal. Dass es dem Autor gelungen war, vom DDR-Büro für Urheberrechte eine Druckgenehmigung für den westdeutschen Verlag S. Fischer zu bekommen, ohne das Manuskript vorgelegt zu haben, sorgte für einen innerparteilichen Eklat. Eine Strafverfolgung Reiner Kunzes war aber ausgeschlossen, da das Buch offiziell genehmigt worden war. Als „Alternativlösung“ wurde Reiner Kunze am 3. November aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam.

1977
Um der scheinbar drohenden Verhaftung zu entgehen – eine gezielt lancierte Absicht, um Kunze zum Verlassen der DDR zu bringen –, stellte Reiner Kunze am 7. April für die gesamte Familie einen Ausreiseantrag, der am 10. April genehmigt wurde. Am 13. April verließen Marcela Kunze und ihr Verlobter sowie das Ehepaar Elisabeth und Reiner Kunze die DDR. Im Oktober erhielt Kunze für das Buch „Die wunderbaren Jahre“ den Georg-Büchner-Preis; die Laudatio hielt Heinrich Böll. Reiner Kunze wurde der Georg-Trakl-Preis verliehen.

1978
Seit 1978 leben Reiner Kunze und seine Frau im bayerischen Obernzell-Erlau.

1981
Reiner Kunze wurde der Geschwister-Scholl-Preis verliehen.

1988
1988/89 hatte Kunze Gastdozenturen für Poetik an den Universitäten in München und Würzburg inne.

1993
Reiner Kunze erhielt das Große Bundesverdienstkreuz.

1995
Reiner Kunze wurde zum Ehrenbürger der Stadt Greiz ernannt.

1996
Reiner Kunze erhielt den Weilheimer Literaturpreis.

1999
Reiner Kunze wurde der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg verliehen.

2006
Reiner Kunze gründete gemeinsam mit seiner Ehefrau Elisabeth die Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung.

Werke

Vögel über dem Tau. Mitteldeutscher Verlag (1959); Aber die Nachtigall jubelt. Mitteldeutscher Verlag (1962); widmungen. Hohwacht (1963); Poesiealbum. Verlag Neues Leben (1968); Sechs Variationen über das Thema „Die Post” und drei Gedichte. Rowohlt (1968); sensible wege. Rowohlt (1969); Der Löwe Leopold. S. Fischer (1970); Der Dichter und die Löwenzahnwiese. Berliner Handpresse (1971); zimmerlautstärke. S. Fischer (1972); Brief mit blauem Siegel. Reclam, Leipzig (1973); Die wunderbaren Jahre. S. Fischer (1976); Das Kätzchen. S. Fischer (1979); auf eigene hoffnung. S. Fischer (1981); Ergriffen von den Messen Mozarts. Ed. Pongratz (1981); gespräch mit der amsel. S. Fischer (1984); eines jeden einziges leben. S. Fischer (1986); Das weiße Gedicht. S. Fischer (1989); Selbstgespräch für andere. Reclam, Stuttgart (1989); wundklee. Fischer Taschenbuch (1989); Zurückgeworfen auf sich selbst. Ed. Pongratz (1989); Deckname „Lyrik“. Dokumentation. Fischer Taschenbuch (1990); Am Krankenbett des Tierbildhauers Heinz Theuerjahr. Ed. Pongratz (1991); Mensch ohne Macht. Ed. Pongratz (1991); Wohin der Schlaf sich schlafen legt. S. Fischer (1991); Am Sonnenhang. S. Fischer (1993); Begehrte, unbequeme Freiheit. Ed. Pongratz (1993); Sprachvertrauen und Erinnerung. Ed. Pongratz (1994); Wo Freiheit ist. S. Fischer (1994); Der Dichter Jan Skácel. Ed. Pongratz (1996); Steine und Lieder. S. Fischer (1996); Aus den Briefen des Mautners Hans Salcher. Ed. Pongratz (1997); Bindewort „deutsch“. Ed. Pongratz (1997); ein tag auf dieser erde. S. Fischer (1998); Zeit für Gedichte. Ed. Pongratz (2000); gedichte. S. Fischer (2001); Die Regenwolken zogen ab. Reche (2001); Die Aura der Wörter. Radius (2002); Der Kuß der Koi. S. Fischer (2002); Wie macht das der Clown. Reche (2003); Wo wir zu Hause das Salz haben. S. Fischer (2003); Erfurter Rede. Ed. Pongratz (2004); Die Leidenschaft des Schreibens. Ed. Pongratz (2004); Bleibt nur die eigne Stirn. Radius (2005); lindennacht. S. Fischer (2007); Mensch im Wort. Ed. Pongratz (2008); Die Sprache, die die Sprache spricht. Ed. Pongratz (2009); Was macht die Biene auf dem Meer? S. Fischer (2011); Wenn wieder eine Wende kommt. Ed. Pongratz (2011); Fern kann er nicht mehr sein. Ed. Pongratz (2013); Reden und Gedichte 2014/2015. Mytze (2015); Am Sonnenhang. S. Fischer (2016); die stunde mit dir selbst. S. Fischer (2018); Reiner Kunze über Heinz Theuerjahr. Ed. Pongratz (2018); Doch schade um das Volk. Ed. Pongratz (2018); Nabelschnur zur Welt. Reiner Kunzes deutsch-deutscher Briefwechsel mit Jürgen P. Wallmann. Auswahl und Kommentar von Heiner M. Feldkamp. Ed. Pongratz (2022)
Reiner Kunzes Lyrik und Prosa wurde in dreißig Sprachen übersetzt; er selbst übersetzte aus dem Tschechischen ins Deutsche und schuf zahlreiche Nachdichtungen tschechischer Lyrik.