Kristina Stella: Wie die Ankunftsliteratur zu ihrem Namen kam


Das Buch

Anfang Januar 1960 zog das Schriftstellerehepaar Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann auf dem Bitterfelder Weg nach Hoyerswerda, um die Arbeit im Braunkohlenkombinat Schwarze Pumpe aufzunehmen. Brigitte Reimanns Lektor im Verlag Neues Leben, Walter Lewerenz, schrieb ihr gleich am 12. Januar einen Brief dorthin und einen Wunsch: „Hoffentlich stößt Du in Deinem neuen Arbeitsbereich auf interessante Stoffe, die Du dann für uns bearbeiten wirst!“[1] Nur sechs Tage später erreichte ihn Brigitte Reimanns Antwort: „Eine Idee für ein Mädchenbuch ist schon aufgetaucht, aber ich werde sie noch lange im Herzen bewegen müssen, ehe sie sich zu einer handfesten Fabel verdichtet [hat] und Dir vorgelegt werden darf.“[2]

Der Verlag aber wollte nicht warten und bat, bald ein Exposé zu schicken. Außerdem brauchten Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann dringend Geld, um sich in ihrer ersten eigenen Wohnung in Hoyerswerda einrichten zu können – und ohne weitere Gegenleistung verweigerte der Verlag einen weiteren Vorschuss. Also setzte sich Brigitte Reimann mit der ihr eigenen eisernen Disziplin an den Schreibtisch und Ende Februar 1960 schickte sie statt eines Exposés bereits die ersten dreißig Seiten ihres Mädchenbuches, das nun ein Jugendbuch geworden war, an Walter Lewerenz. Sie schrieb:


„Ich schicke Dir heute die ersten dreißig Seiten eines Jugendbuches (einen Titel habe ich noch nicht). Ein Exposé kann ich Dir nicht geben, vielleicht nur soviel: Es ist die Geschichte von drei Oberschülern, die mit der harten Wirklichkeit einer Großbaustelle konfrontiert werden. Ich versuche hier, (und das ist ein so gewagtes wie interessantes Experiment), ein Buch gemeinsam mit meiner sozialistischen Brigade – Rohrlegern und Schweißern – im Kombinat zu erarbeiten.“[3]

Lewerenz antwortete und bereits jetzt spürte man deutlich seine Nähe zum Stoff des Buches:

„Daß Du über unsere Mitteilung, Dir das Honorar nicht vorschießen zu können, verärgert warst, verstehe ich. […] Ich freue mich, daß Du trotz Deiner Verärgerung die 30 Seiten des neuen Manuskripts an uns geschickt hast. Die Exposition ist wirklich gut und verspricht eine interessante, lebendige, jugendtümliche Arbeit. Die drei Hauptgestalten sind einem bereits jetzt gegenwärtig. Der Nikolaus ist mir schon recht lieb geworden und Curt, ich bin neugierig, in welche Situationen Du ihn noch stellen wirst, damit er endlich umgekrempelt wird und begreift. Ja, und Recha, eine gewiß schwierige, aber reizvolle Gestalt. Wird sie ihrem Vater begegnen? Du merkst, ich mache mir bereits Gedanken über den Fortgang der Handlung, über die Entwicklung der Figuren und magst daraus ersehen, mit welcher Anteilnahme ich gelesen habe. Ich glaube auch, daß Du, jedenfalls nach den 30 Seiten zu urteilen, das richtige Verhältnis zu Deinen Personen und zum Stoff hast. Zurückhaltend, objektiv, mit dem richtigen Gefühl für das Wesentliche, für das Neue. Es wird jetzt darauf ankommen, daß Du die Fabel so führst, die Konflikte so zuspitzt, daß Du die Erziehung der drei jungen Leute bewältigst und zugleich ein Bild des werdenden sozialistischen Lebens gibst. Interessant ist Dein Vorhaben, das Buch gemeinsam mit Deiner sozialistischen Brigade zu erarbeiten. Ich würde gern an einer solchen Aussprache teilnehmen.“[4]

Brigitte Reimann fiel ein Stein vom Herzen, denn auf die Meinung ihres Lektors Lewerenz legte sie immer großen Wert und ein Verlagsvertrag rückte nun in greifbare Nähe. „Du wirst doch an diesem Manuskript mit mir arbeiten, nicht wahr?“ antwortete sie am 13. März und weiter „Ich habe sehr viel Lust und Mut zu dem Buch und fürchte nur, daß es hinter der lebendigen Wirklichkeit zurückbleiben könnte.“[5] Das Manuskript trug inzwischen den Arbeitstitel „Die Abiturienten“. Und zunächst schien alles glatt zu gehen. „Wenn Sie so weiterschreiben, werden Sie unsere Lektoren arbeitslos machen.“[6] schrieb der Verlag. Doch ein halbes Jahr später, im Oktober 1960, hatte sich das Blatt gewendet. Brigitte Reimann hatte – zusätzlich zu ihrer Arbeit an der Erzählung – für den Aufbau-Verlag die Kriminalgeschichte „Das Geständnis“ geschrieben und noch dazu einen Auftrag des Fernsehfunks angenommen, ihre Erzählung „Die Frau am Pranger“ als Drehbuch umzuarbeiten. Brigitte Reimann hatte sich – wie bereits so oft – einfach zu viel auf einmal zugemutet und schaffte es nicht, den Manuskriptabgabetermin für „Die Abiturienten“ einzuhalten. Der Verlag Neues Leben schickte daraufhin einen gleichermaßen zynischen wie zornigen Brief nach Hoyerswerda:

„[…] offensichtlich ist die Fertigstellung der ‚Abiturienten‘ schwieriger und zeitraubender als Sie und wir vor einem halben Jahr, als wir den Vertrag abschlossen, angenommen haben. Der Termin der Manuskriptablieferung ist da und es liegen erst 150 Seiten vor. Sie wissen, mit welchem Interesse wir die Entstehung des Romans verfolgen und daß wir ihn möglichst bald herausbringen möchten. Sie wissen aber auch, was ein Terminverzug für die Verlagsarbeit bedeutet […].“[7]

Brigitte Reimann bekam zwei weitere Monate, dann musste das Manuskript endgültig fertig sein. Vor lauter Terminangst konnte sie kaum noch schreiben, und wie sie die fehlenden 100 Seiten in einem Monat schaffen sollte, war ihr schleierhaft. Sie habe sich „mit dem Umfang des Buches doch verkalkuliert.“, schrieb Brigitte Reimann in ihrem Antwortbrief an Meta Borst vom Verlag Neues Leben.[8]

Fast schlimmer noch war, dass der Titel des Buches bereits zu diesem Zeitpunkt festgelegt werden musste und der bisherige Arbeitstitel „Die Abiturienten“ von der Verlagsleitung nicht akzeptiert wurde. Walter Lewerenz versuchte darauf hin, Brigitte Reimann zu helfen. Gemeinsam mit seinen Kollegen im Verlag dachte er sich mögliche Buchtitel aus, aber etwas wirklich Brauchbares fiel auch ihnen nicht ein. Verworfen wurden Titel wie „Unromantische Abenteuer“, „Die andere Romantik“, „Erziehung der Gefühle 1960“ oder sogar „Napoleon und die Abiturienten“. [9] Die Zeit wurde immer knapper. „Es wird also notwendig sein, daß Du Dir etwas Besseres ausdenkst; und zwar schnell.“ schrieb Lewerenz am 4. November 1960 an seine Autorin.[10]

Es kam, wie es kommen musste. Vor lauter Stress wurde Brigitte Reimann krank. Mit einer schweren Grippe lag sie im Bett und Siegfried Pitschmann übernahm stellvertretend die Korrespondenz mit Walter Lewerenz. Er schlug nach Absprache mit Brigitte Reimann als neuen Titel „Die Halbreifen“ vor.[11] Lewerenz überzeugte dieser Titel nicht. Tag und Nacht zerbrach er sich selbst den Kopf. Und buchstäblich in allerletzter Sekunde fiel ihm der Titel ein, nach dem später in der DDR eine ganze Literaturgattung benannt werden würde. Am 24. November 1960 schrieb er an Brigitte Reimann:


„Was Deinen Titelvorschlag angeht, ‚Die Halbreifen‘, so erinnert er doch zu sehr an ‚Die Halbstarken‘ oder ‚Die Halbseidenen‘ oder die ‚Halbgewalkten‘. Ich würde unsere drei Helden doch lieber nicht unter ein so negatives Vorzeichen stellen. Vor dem Einschlafen habe ich mir derweil Gedanken über einen anderen Titel gemacht. Was hältst Du von ‚Ankunft im Alltag‘?“[12]

Damit war zumindest ein Problem gelöst. Aber die Freude währte nur kurz. Trotz harter gemeinsamer Arbeit konnten Brigitte Reimann und Walter Lewerenz den Manuskriptabgabetermin vom 7. Januar 1961 nicht halten. Und dann wurde auch noch Lewerenz krank. Brigitte Reimann war auf sich allein gestellt. Doch im Februar hatte sie es endlich geschafft. Erleichtert schickte sie das fertige Manuskript an den mittlerweile wieder gesunden Walter Lewerenz in den Verlag und im Juni 1961 erschien „Ankunft im Alltag“ von Brigitte Reimann. Das Buch wurde ein großer Erfolg: Am 10. Juni 1962 erhielt Brigitte Reimann dafür den Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) und am 2. Juli 1962 einen Preis im Jugendliteraturwettbewerb.


Gedenktafel vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Reimann
in der Neuendorfer Straße 2 in Burg (2013)
Foto: Kristina Stella [10]

Der erste Film

Weitgehend unbekannt ist bislang, dass Brigitte Reimann gemeinsam mit Siegfried Pitschmann bereits im Jahr 1958 – also vier Jahre vor Entstehung der Buchausgabe von „Ankunft im Alltag“ – im Auftrag der DEFA einen ersten Anlauf unternommen hatte, diesen Stoff zu verfilmen:

„Sehr geehrter Herr Dr. Schwalbe, wir danken für Ihren Brief vom 12.5.58. Wir haben, Ihrem Vorschlag folgend, eine Skizze geschrieben, aus der Sie, obgleich wir uns auf Andeutungen beschränken, unser Vorhaben ersehen können. Wir erwarten Ihre Antwort.“[13]

Zu diesem Zeitpunkt verfügte nur Siegfried Pitschmann über Erfahrungen mit dem geplanten Filmschauplatz: dem Braunkohlenkombinat Schwarze Pumpe in der Lausitz. Brigitte Reimann war noch nie dort gewesen. In Koproduktion entstand 1958 die Filmskizze „Zwischenstation Abenteuer“. Sie kann als Frühfassung des „Ankunft-im-Alltag-Stoffes“ bezeichnet werden, auch wenn die Protagonisten hier noch andere Namen tragen, als in Brigitte Reimanns späterer Erzählung „Ankunft im Alltag“. Die Story ist genau dieselbe. Das Originalmanuskript der Filmskizze konnte ermittelt werden; sie war dem Brief von Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann an die DEFA vom 20. Mai 1958 als Anlage beigefügt. Ein Auszug:

„Der Film zeigt einen Ausschnitt vom Aufbau des Kombinats ‚Schwarze Pumpe‘, dargestellt an der Geschichte von drei Abiturienten, zwei Jungen und einem Mädchen, die dort ein Jahr praktische Arbeit leisten. […] Die Reise in die ‚Schwarze Pumpe‘ wird für die drei Helden zur Reise ins neue Abenteuer, zur gewagten Entdeckungsfahrt in ein Leben, das trotz nüchterner Planung, ausgeklügelter Technik, trotz Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten nicht ohne Romantik ist; sie begegnen den unterschiedlichsten Menschen und ihren Schicksalen […] Die drei verbindet eine Liebesgeschichte; Martin verliert das Spiel, als die unbestechliche Realität der neuen Umwelt seine anspruchsvolle Hohlheit aufdeckt: Er scheitert, während Ruth und Nickel […] sich behaupten.“[14]

Der zweite Film

Nachdem am 21. Januar 1962 die Ausstrahlung des Fernsehspiels „Die Frau am Pranger“ nach Brigitte Reimanns gleichnamiger Erzählung für Furore gesorgt hatte, bat das DEFA-Studio für Spielfilme Brigitte Reimann, „Ankunft im Alltag“ verfilmen zu dürfen. Michael Englberger sollte Regie führen und Brigitte Reimann das Drehbuch schreiben. Brigitte Reimann sagte der DEFA zu. Dass dem Filmprojekt nicht annähernd so viel Erfolg beschieden sein würde, wie dem Buch, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

Am 20. Juli 1962, einen Tag vor ihrem 29. Geburtstag (Brigitte Reimann hatte gerade das Manuskript ihrer neuen Erzählung „Die Geschwister“ fertiggestellt), begann Brigitte Reimann vertragsgemäß die Arbeit am Treatment zu „Ankunft im Alltag“. Ein Treatment beschreibt einen geplanten Film, es enthält die vollständige Geschichte, manchmal auch schon Dialogtexte, aber noch keine fertig ausformulierten Szenen oder kompletten Dialoge und es erforderte damit eine ganz andere Herangehensweise, als es Brigitte Reimann üblicherweise von ihren literarischen Texten gewohnt war. Am 25. Juli schrieb sie an Siegfried Pitschmann: „Das Treatment macht mir auch keinen Spaß, es ist eine langweilige Arbeit, und ich bastele stundenlang an meinem Haushalt herum, um nicht an den Schreibtisch gehen zu müssen.“ [15] Doch sie war diszipliniert und fleißig wie immer und schon bald hatte sie das Treatment fertig. Am 24. August 1962 notierte Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch: „Das Treatment ist fertig, M[ehnert] war hier, wir haben uns zur Feier des Tages betrunken.“[16] Das Dokument, das der Grund für die ausgelassene Feier war, befindet sich heute im Archiv des Filmmuseums in Potsdam. Es trägt das Datum 24.08.1962 und umfasst 73 Seiten mit 25 Szenen. Auf den Umschlag hatte Günter Mehnert mit grünem Kugelschreiber geschrieben: „Dramaturgie: Mehnert“.[17]

Bei der DEFA-Beratung am 1. September wurde das Treatment nicht angenommen. Günter Mehnert überließ seinem Kollegen Dieter Scharfenberg die Übermittlung der unangenehmen Nachricht an Brigitte Reimann:


„[…] ich bin gebeten, im Auftrage von Günter Mehnert einen kurzen Zwischenbescheid über die Situation beim Stoff ‚Ankunft im Alltag‘ an Sie zu senden […] Der Stoff stand bekanntlich am 1.9.1962 im Gesamtprogramm der Produktion unserer Arbeitsgruppe für das Jahr 1963 zur Diskussion und wurde dabei ausführlich beraten. Die künstlerischen Mitarbeiter […] kamen zu der Auffassung, dass das vorliegende Treatment noch nicht abgenommen werden sollte, sondern […] hinsichtlich der Grundbeziehungen und Problematik bei den drei Hauptfiguren […]“[18]

Brigitte Reimann fasste das in ihrem Tagebuch ganz prosaisch so zusammen: „Schon wieder Ärger mit der DEFA, das Treatment soll umgeschmissen werden, irgendwelche künstlerischen Beiräte pfuschen mir in die Arbeit. Ich habe die Schnauze voll.“[19] Dennoch. Am 5. Oktober 1962 fuhr Brigitte Reimann wie geplant ins Schriftstellerheim nach Petzow, um dort gemeinsam mit Michael Englberger und Günter Mehnert das Treatment zu überarbeiten und daraus eine Drehbuchfassung zu machen. Ausführlicher noch als im Tagebuch berichtete Brigitte Reimann in ihren Briefen an Siegfried Pitschmann vom Fortgang der Arbeiten, die sich bis Weihnachten hinziehen sollten.

Der Film auf dem Zauberberg

Januar 1963. Die Arbeit am Drehbuch hatte Brigitte Reimann bereits mehr als ein halbes Jahr gekostet. Lange Monate, in denen sie eigentlich viel lieber ein neues Buch begonnen hätte. Sie wollte Erzählungen schreiben und am allerliebsten den Roman, der ihr schon seit langem im Kopf herumging („Franziska Linkerhand“). Die Arbeit am Film wurde ihr immer verhasster, die anfängliche Euphorie darüber, ihre literarischen Stoffe noch einmal im Medium Film präsentieren zu können, hatte ihr die DEFA gründlich verdorben. Am 14. Januar finden wir dazu wieder eine typisch Reimannsche Zusammenfassung im Tagebuch: „Mit Michel hocke ich jeden Tag über dem Drehbuch – eine beschissene pedantische Arbeit.“[20]

Februar 1963. Brigitte Reimann war jetzt – mit Unterbrechungen – bereits seit viereinhalb Monaten in Petzow und der Aufenthalt konnte nicht mehr verlängert werden. Die Abschlussarbeiten am Drehbuch mussten deshalb in Hoyerswerda erledigt werden. Siegfried Pitschmann war zu der Zeit zur Kur in Warmbad und so konnte das Trio Reimann-Englberger-Mehnert Anfang März die Wohnung in der Hoyerswerdaer Liselotte-Hermann-Straße 20 mit Beschlag belegen und hoffte, nach einer zweitägigen Marathon-Sitzung den Schluss-Strich unter das Rohdrehbuch setzen zu können. Am 2. März 1963 schrieb Brigitte Reimann in ihr Tagebuch:


„Vormittags kamen der Michel und Günter [Mehnert], und wir fielen uns in die Arme und herzten und küßten uns und waren glücklich, und dann brachen die zwei lauten Tage an. […] wir waren die ganze Zeit beschwipst und arbeiteten wie wild […] wir haben nicht allzuviel geschafft, aber dafür haben wir uns herrlich amüsiert. […] Wir besichtigten die Schauplätze für unsere Handlung, und Erwin [Hanke] zeigte uns das neue Hallenschiff. […] Wir arbeiteten bis abends um elf, und als wir den Vorspann geschafft hatten, lagen wir herum wie sterbendsmatte Winterfliegen, und Michel schlief ein – aber schön war es doch, […] und nun ist das Rohdrehbuch fertig; heute und morgen habe ich noch abzuschreiben. Ich war ganz traurig, als die beiden abfuhren, […] und ich fiel in mein Bett und konnte nicht schlafen vor Übermüdung.“[21]

Der Film in der Schublade

Das fertige Drehbuch stammt vom 12. März 1963 und umfasst stolze 205 Seiten. Doch während Brigitte Reimann mit ihren DEFA-Kollegen Mehnert und Englberger am Drehbuch gearbeitet hatte, hatte sich das literarische Leben in der DDR immer mehr von der Euphorie der Anfangsjahre entfernt. Die lebendige Wirklichkeit, die Brigitte Reimann zu Beginn des Jahres 1960 noch gespürt hatte, als sie „Ankunft im Alltag“ begann, war einer zunehmenden Lähmung in einem Hamsterrad aus harter Arbeit und zermürbenden Alltagssorgen gewichen. Auch der Bitterfelder Weg hatte nicht den erhofften Erfolg gebracht und der Zenit der „Ankunftsliteratur“ war zu Beginn des Jahres 1963 bereits überschritten.

Reimann, Mehnert und Englberger ahnten deshalb schon, was kommen würde und hatten einen Notfallplan entworfen. Wenn die DEFA den Stoff erneut ablehnen sollte, wollten sie das Drehbuch dem Deutschen Fernsehfunk anbieten.[22] Das sich auch diese letzte Hoffnung zerschlagen würde, konnten sie sich kaum vorstellen. Zu schmerzlich war besonders für Brigitte Reimann der Gedanke, insgesamt ein ganzes Jahr in ein Auftragswerk gesteckt zu haben, das nun niemand mehr haben wollte. Der nüchterne Rest der niederschmetternden „Ankunft in der Schublade“ ist recht schnell erzählt. Am 6. April 1963 notierte Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch: „[…] ich habe gehört, daß mein Film sterben wird […]“[23] und am 23. April:


„Bei der lieben Defa bin ich ausgestiegen. Wir hatten Dienstag Direktionssitzung, man forderte wieder Änderungen, zu denen ich keine Lust hatte, wahrscheinlich nicht einmal gestalterisches Vermögen. Ich sagte nein und schlug vor, man solle doch einen erfahrenen Szenaristen an das Drehbuch setzen. Erstaunen, Schreck, schließlich zögernde Einwilligung. Ich verließ als freier Mann das Zimmer.“[24]

Die Stasi wurde umgehend über das unerhörte „Nein“ der Reimann unterrichtet. Im IM-Bericht hört sich derselbe Sachverhalt so an:

„Bei dieser Gelegenheit erzählte die R., daß sie ihre Arbeit bei der DEFA hingeworfen habe und nicht mehr mitmacht. Sie sollte noch dieses und jenes ändern, dazu hatte sie keine Lust mehr, weil die Änderungen so idiotisch waren und sie hat ihnen gesagt, sie sollen sich einen anderen suchen, der das fertigschreibt, sie möchte nur noch den Berater machen. Sie denkt nicht daran, nochmals ein halbes Jahr daranzuhängen, natürlich verliert sie eine Masse Geld dabei, und sie wird ja blöde, wenn sie dauernd nur an dieser Arbeit sitzt und zu nichts anderem richtigem kommt.“[25]

Durch ihren Ausstieg war Brigitte Reimann endlich die ungeliebte Arbeit am Drehbuch los. Den Film wollte die DEFA angeblich nach wie vor realisieren. Doch mittlerweile waren noch einmal fast zwei Monate vergangen, nichts war passiert und Brigitte Reimann war es endgültig leid. Sie wollte den Notfallplan aktivieren. Sie schrieb an den DEFA-Chefdramaturgen Klaus Wischnewsky:

„[…] nun muß ich mich doch nochmal wegen ‚Ankunft im Alltag‘ an Sie wenden. Bis zum 1. Mai sollte ich erfahren, wer denn nun die Regie übernehmen wird, aber nach wie vor ist diese Frage ungeklärt. Sie wissen ja auch, daß ich mit den Änderungen, die vorgeschlagen wurden, nicht einverstanden bin. Wozu soll das Drehbuch nun noch monatelang in einem Archiv herumliegen? Neulich hatte ich eine Unterredung mit Herrn Kolus: der Fernsehfunk ist bereit, das Drehbuch sofort zu übernehmen und zu verfilmen. Ich möchte Sie bitten, mein Anliegen der Direktion vorzutragen und eine Entscheidung zu fällen in dem Sinne, daß ‚Ankunft im Alltag‘ dem Deutschen Fernsehfunk zur Verfügung gestellt wird.“[26]

Auch Wischnewsky ließ seinen Stellvertreter antworten:

„Da wir z. Zt. keine Möglichkeiten sehen, den Stoff in Produktion zu geben, wurde – Ihr Einverständnis vorausgesetzt – das Manuskript bereits dem Deutschen Fernsehfunk zur Verfügung gestellt. Sollte sich der Deutsche Fernsehfunk für eine sofortige Produktion entscheiden, wären wir bereit, unsere Rechte dem Deutschen Fernsehfunk zu übergeben. Diese Entscheidung ist, ich möchte das noch einmal betonen, im Interesse einer schnellen Produktion gefällt worden. Wir sind gleich Ihnen der Auffassung, dass eine Verzögerung der Produktion schädlich wäre.“[27]

Am 26. Juni 1963 kam das Drehbuch beim Deutschen Fernsehfunk – und im realsozialistischen Alltag an: Dort verschwand es lautlos und endgültig in den Schubladen.[28]

Anmerkungen

Der Aufsatz ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines 2013 in Burg gehaltenen Vortrags „Die wahre Geschichte der ‚Ankunft im Alltag‘ und des nie realisierten Spielfilms“ (In: Ich sterbe, wenn ich nicht schreibe. – Erfurt : Dorise, 2013. – Seite 463-476). Die Veröffentlichung, auch nur auszugsweise oder jedwede sonstige Verwendung des Materials, sind nur mit meiner ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung gestattet.

[1] Walter Lewerenz an Brigitte Reimann, 12.01.1960. – Archiv BRA (Brigitte-Reimann-Archiv im Literaturzentrum Neubrandenburg) 864-139.
[2] Brigitte Reimann an Walter Lewerenz, 18.01.1960. – Archiv BRA 864-145.
[3] Brigitte Reimann an Walter Lewerenz, 25.02.1960. – Archiv BRA 864-167.
[4] Walter Lewerenz an Brigitte Reimann, 08.03.1960. – Archiv BRA 864-176.
[5] Brigitte Reimann an Walter Lewerenz, 13.03.1960. – Archiv BRA 864-177.
[6] Bruno Peterson an Brigitte Reimann, 31.03.1960. – Archiv BRA 864-186.
[7] Meta Borst an Brigitte Reimann, 22.10.1960. – Archiv BRA 864-300.
[8] Brigitte Reimann an Meta Borst, 05.11.1960. – Archiv BRA 864-307.
[9] Walter Lewerenz an Brigitte Reimann, 04.11.1960. – Archiv BRA 864-305.
[10] Ebd.
[11] Siegfried Pitschmann an Walter Lewerenz, 10.11.1960. – Archiv BRA 864-316.
[12] Walter Lewerenz an Brigitte Reimann, 24.11.1960. – Archiv BRA 864-328.
[13] Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann an Dr. Schwalbe (DEFA), 20.5.1958. – Archiv BRA, 862-9-1.
[14] Zwischenstation Abenteuer [Arbeitstitel] : Filmskizze. – [Undatiert, 20.05.1958]. – Archiv BRA, 862-9-2/3.
[15] Brigitte Reimann an Siegfried Pitschmann, 25.07.1962. – In: „Wär schön gewesen!“ (2013), Seite 109.
[16] Brigitte Reimann, 24.08.1962. – In: Ich bedaure nichts (1997), Seite 248.
[17] Filmmuseum Potsdam, Sammlungen. – Iv.-Nr. 18/1999/N 010. ADB/419.
[18] Dieter Scharfenberg (DEFA) an Brigitte Reimann, 07.09.1962. – Archiv BRA 865-245.
[19] Brigitte Reimann, 14.09.1962. – In: Ich bedaure nichts (1997), Seite 249.
[20] Ebd., Seite 277.
[21] Ebd., Seite 301-303.
[22] Günter Mehnert an Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann, 15.03.1963. – Archiv BRA 866-292.
[23] Brigitte Reimann, 06.04.1963. – In: Ich bedaure nichts (1997), Seite 311.
[24] Ebd., Seite 314.
[25] Auszug aus IM-Bericht, Cottbus, 24.04.1963. – Archiv BStU, MfS, BV Neubrandenburg AOPK 259/73 Bd. II, Seite 2.
[26] Brigitte Reimann an Klaus Wischnewsky, [17.06.1963]. – Archiv BRA 866-324.
[27] Päch (DEFA) an Brigitte Reimann, 26.06.1963. – Archiv BRA 866-335.
[28] Im Archiv des Filmmuseums Potsdam (Archiv Film Potsdam) bzw. im Filmarchiv des Bundesarchivs (Archiv BA) konnten die Originalmanuskripte des ersten Treatments vom 24. August 1962, des zweiten Treatments vom 13. November 1962 und des Rohdrehbuchs vom 12. März 1963 ermittelt werden. Da Drehbücher und ihre Vorstufen üblicherweise an mehrere Beteiligte verteilt wurden, gibt es mehrere „Originale“.
Ankunft im Alltag : Treatment I/1 / von Brigitte Reimann. Dramaturgie: Mehnert. – maschinenschriftlich. – 24.08.1962. – 73 Blatt, 73 Seiten. – Archiv Film Potsdam, Inventarisierungsnummer 18/1999/N 010 (Original). Archiv BA, Inventarisierungsnummer DR 117/10753 (Original).
Ankunft im Alltag : Treatment II / Autor: Brigitte Reimann. Dramaturg: Günter Mehnert. – maschinenschriftlich. – 13.11.1962. – 68 Blatt, 68 Seiten. – Archiv BA, Inventarisierungsnummer DR 117/10754 (Original).
Ankunft im Alltag : Rohdrehbuch / von Brigitte Reimann. – maschinenschriftliches Original. – 12.03.1963. – 206 Blatt, 206 Seiten. – Archiv BA, Inventarisierungsnummer DR 117/331 (Original).