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Kristina Stella: Der Mann mit dem Blitz im Namen – Eine Phantasiereise zu Reiner Kunze

 


Kristina Stella
Der Mann mit dem Blitz im Namen – eine Phantasiereise zu Reiner Kunze

Hauzenberg: Edition Toni Pongratz 2023, ISBN 978-3-945823-20-0, 31 Seiten, Klappenbroschur, Illustrationen, EUR 16.00 Limitierte Auflage: 500 nummerierte und signierte Exemplare.
Edition Toni Pongratz

Anlässlich Reiner Kunzes 90. Geburtstag am 16. August 2023 erscheint zum Jahresausklang des Geburtstagsjahres in der traditionsreichen „Edition Toni Pongratz“ der Essay „Der Mann mit dem Blitz im Namen“.
Kristina Stella schreibt über eine vielschichtige Gefühlswelt aus Trauer und Verlust aber auch über die Liebe – zum Leben, zur Welt der Bücher und zur Natur. Eine Reise voller Phantasie an den Sonnenhang. Zitate Reiner Kunzes und Gedichtauszüge bilden den roten Faden, der sich durch den gesamten Essay zieht.
Die Buchausgabe in einer nummerierten und signierten Auflage von 500 Exemplaren ist mit exklusiv für diese Ausgabe gestalteten Aquarellen des Künstlers Jens Lay illustriert, deren Farbgestaltung die Biografie des Schriftstellers und Lyrikers Reiner Kunze nachempfindet. Die Original-Aquarelle befinden sich als Geschenk des Künstlers im Archiv der Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung in Obernzell-Erlau.
Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung

To mark Reiner Kunzes 90th birthday on August 16, 2023, the essay „Der Mann mit dem Blitz im Namen“ („The Man with Lightning in His Name“) will be published by the long-established „Edition Toni Pongratz“.
Kristina Stella writes about a multi-layered emotional world of grief and loss, but also about love – for life, the world of books and nature. A journey full of fantasy to the sunny slope. Quotes from Reiner Kunze and poetry excerpts form the common thread that runs through the entire essay.
The book edition in a numbered and signed edition of 500 copies is illustrated with watercolors designed exclusively for this edition by the artist Jens Lay, whose color scheme is based on the biography of the writer and poet Reiner Kunze. The original watercolors are in the archive of the Reiner and Elisabeth Kunze Foundation in Obernzell-Erlau as a gift from the artist.


Inhalt

Essay
Kurzbiografie Kristina Stella
Kurzbiografie Reiner Kunze
Quellenhinweise


Leseprobe

„Schau“, sagte Leopold zu mir, „da drüben, am anderen Ufer, schon in Österreich, steht die Burg, von der Elisabeth uns erzählt hat!“ „Genau“, erwiderte ich, „deren Dach eines Nachts lichterloh brannte, so dass die kunstvoll gestalteten Ziegel nicht mehr gerettet werden konnten. Man warf sie achtlos herunter, um sie später abzutransportieren. Doch sie trafen auf den weichen Waldboden, der jene, die vom Feuer verschont geblieben waren, schützte.“

Die Kunzes fuhren mit der Fähre über den Fluss und retteten einen der Ziegel, nebst originalen handgezimmerten Nägeln, und jetzt begrüßt er als würdiger Vertreter einer jahrhundertalten Vergangenheit die Gäste des Hauses am Sonnenhang; direkt an der rechten Wand hinter der Eingangstür.

„Vielleicht“, sagte ich zu Leopold, „symbolisiert jener Dachziegel gleichzeitig eine Vergangenheit, die nicht Jahrhunderte, sondern nur Jahrzehnte zurückliegt und die dennoch eine Ewigkeit von der Gegenwart zu trennen scheint.“

Pressestimmen zu Brigitte Reimanns Roman „Die Denunziantin“


Für die Verlage war der Roman fordernder, auch im Angesicht der noch offenen Grenzen, als sie es vertreten konnten oder wollten; die Autorin und ihr Roman erschien ihnen entschiedener sozialistisch, als sie es ihrem Publikum zuzumuten wagten.
Rüdiger Bernhardt. Unsere Zeit, 06.02.2023

Wer „Die Denunziantin“ liest, bekommt eine Vorstellung davon, welchen Weg die gefeierte DDR-Schriftstellerin zurückgelegt hat – von der holprigen, politisch naiven Debütantin bis zur Verfasserin des unvollendet gebliebenen Romans „Franziska Linkerhand“.
Frank Quilitzsch. Thüringer Allgemeine, 05.01.2023

In October Reimann's unpublished debut novel, „Die Denunziantin“ („The Denunciator“), which she started writing at 19 and which was so thoroughly censored that Reimann had given up on it, was published for the first time, having been discovered in the Reimann archive in Neubrandenburg by the editor and Reimann specialist Kristina Stella.
The Guardian, 04.01.2023

Sie war eine Ikone der DDR-Literatur: Wenn jetzt ein bisher unveröffentlichtes Erstlingswerk von Brigitte Reimann erscheint, könnte man von einer Sensation sprechen.
Irmtraud Gutschke. Neues Deutschland, 19.12.2022

In „Die Denunziantin“ ist alles frisch und rein – außer den überkommenen Resten der vergangenen Ordnung. Gegen die kämpft Eva, Abiturientin, Tochter eines Antifaschisten, der von den Nazis ermordet wurde, aber verliebt in einen Jungen, der fesche Westklamotten mag und dessen Vater in West-Schiebergeschäfte verwickelt ist. Das verhängnisvolle Wort von der Wachsamkeit geht um. Obwohl nie von ihm die Rede ist, geht Stalin durch alle Auseinandersetzungen.
Norbert Wehrstedt. Leipziger Volkszeitung, 16.12.2022

Ihre Liebes- und Ehegeschichte [von Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann – K.S.], die nur wenige Jahre Bestand haben sollte, ist durch einen intensiven Briefwechsel, durch die währenddessen entstandenen Werke beider Autoren und durch Brigitte Reimanns berühmt gewordenes Tagebuch für heutige Leser lebendig und sehr plastisch geworden. Die Jahre zuvor, diejenigen, deren Tagebuchnotate Reimann dem Feuer übergeben hatte, sind es weit weniger. Auch deshalb ist das Erscheinen von Reimanns erstem Roman, „Die Denunziantin“, den Kristina Stella jetzt aus dem Nachlass herausgegeben hat, so vielversprechend – eines jener „Bücher, die nie erschienen sind“, und unter ihnen wohl das wichtigste […]
Tilman Spreckelsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2022

Liebe und Verrat. Erstens, die Denunziation, und, zweitens, die Erfahrung, eine Denunziantin zu sein, treiben den Roman an, der ein Schul- und Schülerroman ist – und ein sozialistisches Märchen, so stereotyp geht die Zeichnung der Charaktere und der politisch läuternde Verlauf der Handlung voran. Aber die Alltagselemente machen das wendungsreiche Geschehen interessant bis in die lebensnahe Sprache.
Christian Eger. Mitteldeutsche Zeitung, 08.11.2022

Was für ein Stoff! Was für ein Ton! Was für ein unbekümmertes frisches Talent! Brigitte Reimann war 19, als sie den Text begann.
Karin Grossmann. Sächsische Zeitung, 02.11.2022

Erst jetzt, 70 Jahre später, hat die Publizistin Kristina Stella die Urfassung, „Reimanns Lieblingsfassung“ in einem sorgfältig kommentierten Band herausgegeben.
Frank Wilhelm. Nordkurier, 29.10.2022

Brigitte Reimann: Die Denunziantin

„Brigitte springt mir aus jeder Zeile entgegen!“
(Irmgard Weinhofen nach der Lektüre von Brigitte Reimanns „Die Denunziantin“)





Brigitte Reimann: Die Denunziantin
Mit einem ausführlichen Anhang zur Editionsgeschichte.
Herausgegeben von Kristina Stella. Illustrationen von Jens Lay. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022. 377 Seiten. Klappenbroschur € 24.- Print ISBN 978-3-8498-1770-1. E Book ISBN 978-3-8498-1839-5.


„Die Denunziantin“ ist Brigitte Reimanns allererster Roman, mit dem sie – genau wie Siegfried Pitschmann mit seinem verschollen geglaubten, in der DDR verbotenen Roman „Erziehung eines Helden (Aisthesis, 2015) – auf fulminante Weise die literarische Bühne der DDR betreten wollte. „Die Denunziantin“ beweist aus erster Hand, wie Brigitte Reimann vom Sozialismus träumte.
Brigitte Reimann hat die Urfassung der "Denunziantin" 1952 begonnen und 1953 vollendet. Genau dieses Buch, ihr erster Roman, sollte ihr denkwürdiger Schritt auf die literarische Bühne werden, doch das misslang. Die DDR-Verlage druckten ihn nicht. Zu individualistisch, zu schillernd sei die Hauptperson der Eva Hennig geraten; schlicht einer überzeugten sozialistischen Heldin nicht würdig, lautete eine der vielen Begründungen.
Die jetzt vorliegende Erstausgabe ist jene Urfassung, die Brigitte Reimann selbst am meisten am Herzen lag. Sie ist authentisch in Sprache, Stil und politischer Einstellung der damals überzeugten FDJlerin und Neulehrerin und gleichzeitig ein aufschlussreiches Zeitdokument zum DDR-Alltag der 1950er Jahre und zur frühesten Schaffensphase der Autorin.
Fast wäre der Roman in den Archiv-Schubladen der Literaturgeschichte vergessen worden. Aber nur fast.

„Die Denunziantin“ is Brigitte Reimanns very first novel, with which she – just like Siegfried Pitschmann with his novel „Erziehung eines Helden“ (Aisthesis, 2015), which was believed to be lost and banned in the GDR – wanted to enter the literary stage of the GDR in a brilliant way. „Die Denunziantin“ provides first-hand evidence of how Brigitte Reimann dreamed of socialism.
Brigitte Reimann began the original version of „Die Denunziantin“ in 1952 and completed it in 1953. This book, her first novel, was supposed to be her memorable step onto the literary stage, but it failed. The GDR publishers did not print it. The main character of Eva Hennig was too individualistic, too dazzling; simply not worthy of a convinced socialist heroine, was one of the many reasons given.
The first edition now available is the original version that Brigitte Reimann herself held closest to her heart. It is authentic in the language, style and political attitude of the then convinced FDJ member and new teacher and at the same time a revealing contemporary document of everyday life in the GDR in the 1950s and of the author's earliest creative phase.
The novel was almost forgotten in the archive drawers of literary history. But only almost.

PRESSESTIMMEN


Inhalt

Die Denunziantin
Anhang
Nachwort
Editionsgeschichte
Fassungsvergleich
Quellenverzeichnis mit Inhaltsangaben
Editorische Anmerkungen
Zu den Illustrationen
Biografie Brigitte Reimann

Leseprobe

1. Kapitel
Immerhin war dieser 19. Februar 1951 ein Fest- und Feiertag für die beiden, den Jungen und das Mädchen, die da im S- Bahnzug durch Berlin gondelten und Sahnebonbons lutschten, die einem immer so eklig in den Zähnen kleben blieben, daß man sie kaum wieder rauskriegte, ohne daß man auf allen Anstand pfiff und die Finger als Zahnstocher benutzte.

Vor einem Fahrplan standen sie, studierend, denn beide kannten sich nicht gerade allzu gut aus in den Verkehrslinien der Weltstadt, die in diesen Jahren wieder das wurde, was sie früher gewesen war. Besonders das Mädchen starrte hilflos auf die verschlungenen Linien des Planes – sie war sowieso ziemlich kurzsichtig, man sah es an den angestrengt zusammengekniffenen Lidern –, während der blonde Hüne neben ihr bedeutend weltmännischer suchte und fand.

Sie mußte zu ihm aufschauen, als sie den schwarzhaarigen Kopf hob: „Ich finde mich einfach nicht durch, Klaus.“ „Laß man, Mäuschen“, brummte Klaus, „ich hab’s schon“, wo- bei er wütend versuchte, mit der Zungenspitze das verfluchte Sahnebonbon aus den Zähnen rauszupulen. „Friedrichstraße umsteigen, bis Warschauer Brücke – das ist, glaube ich, die dritte – warte mal, die erste, zweite –, dritte Haltestelle nach dem Alex. Na, und von da weiß ich dann schon weiter.“ Etwas gönnerhaft: „Ich bringe dich schon sicher zu deiner Tante, Eva.“ Klaus griff Eva unters Kinn, sah in die eigenartig schräggeschnittenen schwarzen Augen. In Berlin durfte man das so einfach in aller Öffentlichkeit. In Berlin durfte man noch ganz was anderes, was in der kleinen Heimatstadt verpönt war: man durfte sich am hellen Tage einhaken und so durch die Straßen bummeln, während zuhause dieses Recht eigentlich nur die Verlobten oder wenigstens die So-gut-wie-Verlobten hatten. Jedenfalls fanden das alle Muttis, und „wenn ihr auch noch so fortschrittlich seid, ein bißchen könnt ihr euch doch noch nach der guten alten Sitte richten, nicht wahr?“

Man sah das ein, benahm sich daheim sehr brav und tugendhaft und holte alles Versäumte nach, sobald man einmal in eine andere Stadt entflohen war und wußte, daß einem hier keiner zuguckte. Am schönsten war es in dieser Beziehung in Berlin, fanden Klaus und Eva. Man hätte sich hier in der S-Bahn direkt beinahe einen Kuß geben können, denn die Lampen an der Decke wurden manchmal ganz trübe, und die wenigen Leute, die auf den hellen Bänken saßen, pennten auch halb, weil es schon so spät in der Nacht war. Natürlich trauten die beiden sich trotzdem nicht, aber sie standen eng aneinandergeschmiegt und hielten heimlich ihre Hände gefaßt.

Das Mädchen sah noch immer zu seinem Freund auf, lächelnd aus den schrägen Augen. „Kleiner Mongole“, sagte der große Junge zärtlich. „Weißt du noch – heute vor einem Jahr?“ Klar wußte sie. Erstens hatten sie sich heute schon oft genug an ihr Jubiläum erinnert, und zweitens – den Tag würde sie nicht vergessen, bestimmt nie. Heute vor einem Jahr hatte Klaus ihr den ersten Kuß gegeben. Wenn das nicht ein Grund zum Feiern wäre –

„Weißt du noch“, fing Eva an, „du konntest und konntest dich einfach nicht dazu aufraffen – ich hab’s doch gemerkt.“ Klaus nickte. Ja, ganz genau wußte er noch, was für eine schreckliche Angst er ausgestanden hatte, als er mit ihr damals durch die Kastanienallee gebummelt war und er sich unter jedem Baum vorgenommen hatte, daß er sie unter dem nächsten aber ganz todsicher küssen würde. Aber er brachte und brachte es nicht fertig. Und dann waren sie aus der Kastanienallee raus und nun würde bald Evas Haus auftauchen und sie würde sich von ihm verabschieden wie seit drei Wochen jeden Abend – und wieder würde er in seinem Zimmer rumwüten und sich einen Feigling und Dummkopf schimpfen. Denn er war schrecklich verliebt. Na, und dann kamen sie zu der historischen Ecke von Evas Gartenzaun, wo man noch nicht im Licht der schmiedeeisernen Ampel über der Haustür stand, und da hatte Klaus nur gesagt: „Du, Eva.“ Ganz heiser war er vor Aufregung und Angst gewesen, er könnte es nicht richtig machen, denn er hatte vor ihr noch kein Mädchen angeguckt. Als Eva ihn dann ansah, da hatte Klaus sie eben mitten auf den Mund geküßt – hart, knabenhaft und schrecklich ungeschickt. Eva war nur ziemlich verblüfft und wußte trotz ihrer sonstigen Gewandtheit nicht, was sie im Augenblick Passendes sagen sollte, denn Klaus war ihr bis dahin nicht viel mehr gewesen als jeder andere Klassenkamerad. Eva hatte auch gar nicht recht gewußt, ob sie ihn nun auslachen oder still gerührt sein sollte, wie sich das eigentlich gehörte. Zum Glück waren sie schnell weitergegangen und hatten sich vor der Tür nur schweigend die Hand gegeben.

Von da an aber waren sie beide unzertrennlich und wurden bald in der ganzen Penne mit verständnisvollem Grienen als „Ehepaar Hoffmann“ registriert. Wo der eine auftauchte, konnte man getrost darauf wetten, daß der andere auch nicht weit sei. Und das Küssen hatte der Klaus auch schnell richtig gelernt. Feine Tricks hatten sie sich ausgedacht, um der Aufsicht von Mutti Hoffmann zu entfliehen, wenn sie nachmittags bei Hoffmanns im Wohnzimmer saßen und Schularbeiten machten. Gerade wenn Eva dem Klaus „amare“ und die schwache Konjugation abhörte, fiel Klaus plötzlich ein, daß er ausgerechnet jetzt unbedingt wissen müßte, was „coniuratio“ oder „mandare“ oder sonstwas heiße. Eva war’s im Augenblick auch entfallen, Mutti Hoffmann wußte es erst recht nicht – ja, da mußten sie eben im Wörterbuch nachgucken. Das lag aber leider in Klaus’ Zimmer, so daß sie erstmal da hingehen und das Wort suchen mußten. Na, und so schnell findet man das ja auch nicht immer, nicht wahr? In sinnvollem Wechsel waren es auch manchmal das Radioprogramm oder irgendein ungeheuer wichtiges Buch, das sie zusammen unbedingt sofort suchen mußten.

Die beiden lachten sich vergnügt an, als sie jetzt an ihre Heimtücke dachten, und sie freuten sich in sehr unartiger Weise noch nachträglich darüber, daß die Mutti Hoffmann trotz ihrer moralischen Argusaugen immer wieder prompt auf ihren frechen Schwindel reingefallen war.

Ein Jahr lang schon zusammen! Das will viel heißen bei jungen Leuten, und die beiden bewunderten sich auch schrankenlos wegen ihrer Ausdauer und Treue – wobei sie freilich im Augenblick vergaßen, daß Klaus seine Freundin erst vor wenigen Wochen abends mit einem anderen – noch dazu aus einer unteren Klasse! – im Vorgarten erwischt und ihn ohne Warnung mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte, daß der arme Bengel wochenlang mit einem dekorativen Pflaster über der Stirn durch den Schulflur lief und damit demonstrativ Evas Mitempfinden anrief, die aber inzwischen schon längst wieder reumütig zu ihrem Klaus zurückgekehrt war, dessen schlagkräftige Argumente gegen den andern ihr mächtig imponiert hatten. Der kleine Zwischenfall war schnell vergessen – wie sie sich überhaupt schnell mal zankten und dann sofort wieder vertrugen –, weil eben das Vertragen doch der angenehmste Teil war.

Klaus griff in die Tasche und bot Eva noch einen „Plombenzieher“ an (so hatten sie die Sahnebonbons getauft), während er ihr eröffnete, daß er sie – unter Garantie! – später mal heiraten würde, aber nur unter einer Bedingung. „Und die wäre?“ Eva nahm die Angelegenheit entschieden nicht ernst genug. „Ja, weißt du, wenn wir mal Kinder haben –“ „Haben wir nicht! Ich mache mir nichts aus Kindern.“ „Aber ich meine doch, wenn –“ Klaus hatte eine böse Falte zwischen den Brauen. Eva kannte das, lenkte ein: „Na, meinetwegen. Also, wenn wir nun Kinder haben, was ist denn dann?“

Jetzt wurde Klaus doch verlegen. Etwas unsicher: „Du mußt mir versprechen, daß wir das Mädchen Nelli taufen und –“ Eva hielt noch den Mund. „– und den Jungen Ödipus.“ Da verlor Eva doch die Fassung. „Ödipus – ich bitte dich!“ Mit aufreizend sanfter Besorgnis legte Eva Klaus die Hand auf die Stirn: „Und sonst fühlst du dich ganz wohl, oder –“

Ärgerlich schüttelte Klaus die Hand ab, packte sie zwischen seinen Fäusten, um Eva zur Strafe die Finger zu verrenken. Braunhäutig war sie, breit, fast eine Jungenhand, wären nicht die länglichen, gepflegten Fingernägel gewesen. „Au“, schrie Eva übertrieben laut unter dem derben Griff, daß auf der Nachbarbank ein dösender älterer Herr mißbilligend zu ihnen hinüberblickte, worauf Eva ihn mit strahlendem Lächeln so bezaubernd nett anschaute, daß er, verlegen, nicht wußte, wohin sehen.

„Olles kokettes Biest“, knurrte Klaus. Um alles in der Welt hätte er doch nicht gezeigt, was für Spaß es ihm immer machte, wenn er sah, wie die Freundin mit solchen alten Brummbären fertig wurde. Eva hatte das wirklich raus, wußte, daß sie mit ihren schönen Asiatenaugen mehr erreichte als mit langen Reden und Bitten.

„Ödipus und Nelli ...“ Genießerisch sprach Eva die Worte vor sich hin, so, daß man förmlich mitschmeckte, wie sie ihr auf der Zunge zergingen wie Mondaminpudding oder so. „Diese Klangfülle, diese Harmonie – und so modern ...“ Klaus sah Eva mißtrauisch an (weil er seine Kinder tatsächlich einmal so nennen wollte). Eva machte ein todernstes Gesicht. Plötzlich platzten beide raus und lachten trotz ihrer verpflichtenden 17 Jahre wie die Kinder – unbekümmert laut und albern. Eine verschlafene Frau fuhr aus ihrem Nickerchen auf. Der mißbilligende ältere Herr wagte gar nicht einmal mehr hinzusehen. Vielleicht dachte er, während die S-Bahn mit kreischenden Bremsen in die Halle des Bahnhofs Friedrichstraße einfuhr, daß zu seiner Zeit die Jugend sich nicht so benommen hätte, vielleicht dachte er aber auch, daß solche unverschämt schwarzen Augen eigentlich polizeilich verboten werden müßten – jedenfalls sah er den beiden nicht ohne Neid nach, die, noch immer kichernd und sich gegenseitig schubsend, aus dem Wagen sprangen und im Dunkel der Halle untertauchten.

Kristina Stella: Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen





Kristina Stella
Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen – Reiner Kunze zum 85. Geburtstag

Hauzenberg: Edition Toni Pongratz 2018, ISBN 978-3-945823-06-4, 29 Seiten, Klappenbroschur, zahlreiche Illustrationen, EUR 12.00
Edition Toni Pongratz


Inspiriert von Reiner Kunzes 85. Geburtstag am 16. August 2018 erschien in der traditionsreichen „Edition Toni Pongratz“ der Essay „Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen“. Der Essay beleuchtet aus verschiedenen Perspektiven Reiner Kunzes ungewöhnliches Verhältnis zur Post. Zitate Reiner Kunzes und Gedichtauszüge bilden den roten Faden, der sich durch den gesamten Essay zieht.
Die Buchausgabe in einer nummerierten und signierten Auflage von 500 Exemplaren ist mit bisher unveröffentlichten, individuell gestalteten Briefumschlägen Reiner Kunzes illustriert, die eigene Bildergeschichten erzählen und seit DDR-Zeiten eine Tradition in der Familie Kunze sind. Die Original-Briefumschläge befinden sich im Archiv der Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung in Obernzell-Erlau.
Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung

Inspired by Reiner Kunzes 85th birthday on August 16, 2018, the essay „Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen“ was published by the long-established „Edition Toni Pongratz“. The essay sheds light on Reiner Kunzes unusual relationship with the post from various perspectives. Quotes from Reiner Kunze and poetry excerpts form the common thread that runs through the entire essay.
The book edition in a numbered and signed edition of 500 copies is illustrated with previously unpublished, individually designed envelopes by Reiner Kunze, which tell his own picture stories and have been a tradition in the Kunze family since GDR times. The original envelopes are kept in the archive of the Reiner and Elisabeth Kunze Foundation in Obernzell-Erlau.

Inhalt

Essay
Zu Kristina Stella
Zu Reiner Kunze
Quellenhinweise
Anmerkungen zu den abgebildeten Briefumschlägen


Leseprobe

Im Dezember 2017 erreicht Reiner Kunze das neu erschienene Heft der „Neuen Rundschau“ des S. Fischer Verlages mit seinen lange zuvor geschriebenen und jetzt erstmalig veröffentlichten Briefen an die Schriftstellerkollegin und Freundin Brigitte Reimann. Er bedankt sich beim Verlag:

Liebe Petra Gropp, die Neue Rundschau ist eingetroffen. Ich danke Ihnen, Frau von Heppe und allen Mitverantwortlichen für die Ehre, die u.a. uns, Brigitte Reimann, Kristina Stella, Jan Skácel und mir, auf dem Cover in der Farbe der Deutschen Post zuteil wird. Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen.

Da muss man erstmal draufkommen, denke ich (die mir von Reiner Kunze übersandte Briefkopie in den Händen haltend), den sattgelb daherkommenden Zeitschrifteneinband einer Literaturzeitschrift mit der Deutschen Post zu assoziieren; flüssig niedergeschrieben, als sei genau diese Metapher hier so selbstverständlich wie die Briefmarke auf dem Kuvert.

Ein postgelbes Cover passt andererseits auch wie die (Stasi-)Faust aufs (Dichter-)Auge, wenn dieses die Vergangenheit durch den Blick auf mehr als vierzig Jahre alte Briefe Revue passieren lässt.

Eine Vergangenheit, in der der Staat ihm sagte „geh doch nach drüben, wenn's dir hier nicht passt“. Eine Vergangenheit, in der Reiner Kunze nicht locker-flockige Post-Adaptionen einfielen wie ein postgelbes Cover, eine „Briefwimper“ und ein „goldenes Posthorn“, sondern in der ein „Postalltag“ bestimmend war, dessen Schikanen den sensiblen Schriftsteller mehr als einmal bis an den psychischen und physischen Zusammenbruch brachten. Ein Postalltag, der wie ein Dieb in die Privatsphäre einbrach, indem er schamlos das Briefgeheimnis missachtete. Ein Postalltag, in dem einem unbescholtenen Bürger eine versehentlich verkehrt herum aufgeklebte Briefmarke den Angstschweiß auf die Stirn trieb, ein Postalltag, in dem der Briefträger nicht immer der Briefträger war, aber die Post ein Läuse-Kamm. Ein Postalltag, den Reiner Kunze in einem Zyklus aus „einundzwanzig variationen über das thema ‚die post‘“ festhielt, der, gekürzt und ungekürzt publiziert, hundertfach abgeschrieben und verteilt, einer gesamten Generation die DDR-Wirklichkeit unter die Haut brachte.

Ich mache mich auf die Suche nach den Post-Spuren in und neben den Gedichten, Prosatexten, Interviews, Reden und Erinnerungen Reiner Kunzes, um herauszufinden, wie die biografischen Fäden seine Post-Sprache umschlingen.

Briefwechsel Brigitte Reimann – Wolfgang Schreyer





Ich möchte so gern ein Held sein
Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer – Der Briefwechsel

Hrsg. von Carsten Gansel und Kristina Stella. Berlin: Okapi 2018, ISBN 978-3-9816011-2-1, 540 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, EUR 26.00
Bestellung über den Verlag


Die in diesem Band erstmals veröffentlichte Korrespondenz zwischen Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer schließt eine Lücke in den bereits erschienenen Briefwechseln der DDR-Schriftstellerin. Der Band ist gleichzeitig die erste publizierte Korrespondenz Wolfgang Schreyers. Der zwischen 1955 und 1972 entstandene Briefwechsel zwischen beiden Schriftstellern ermöglicht auch bislang unbekannte Einblicke in den Literaturbetrieb der DDR.
Ein umfassender Anmerkungsapparat von 164 Seiten entschlüsselt Briefdetails und bietet Hintergrundinformationen, die nicht nur zum besseren Verständnis der Briefe beitragen, sondern auch Zusatzinformationen liefern, die das Umfeld, in dem die Briefe entstanden sind, nachvollziehbar macht. Ein Abkürzungsverzeichnis löst die von Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer verwendeten Kürzel auf. Die in den Briefen erwähnten Personen werden über ein Personenverzeichnis erschlossen. Im Verzeichnis der Briefe werden alle Originalvorlagen aufgeführt, beschrieben und mit Inventarisierungsnummern und Aufbewahrungsorten nachgewiesen. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle Wolfgang Schreyer, der – obwohl schon schwer erkrankt – während der Arbeit am Manuskript mit großer Freude und Hingabe mithalf, Fragen und Details zu klären.

The correspondence between Brigitte Reimann and Wolfgang Schreyer, published for the first time in this volume, closes a gap in the previously published correspondence of the GDR writer. The volume is also the first published correspondence of Wolfgang Schreyer. The correspondence between the two writers, written between 1955 and 1972, also provides previously unknown insights into the literary scene in the GDR.
A comprehensive annotation apparatus of 164 pages decodes letter details and offers background information that not only contributes to a better understanding of the letters, but also provides additional information that makes the environment in which the letters were written comprehensible. A list of abbreviations explains the abbreviations used by Brigitte Reimann and Wolfgang Schreyer. The persons mentioned in the letters are listed in an index of persons. In the index of letters, all original documents are listed, described and indexed with inventory numbers and storage locations. Special thanks are due at this point to Wolfgang Schreyer, who - although already seriously ill - helped to clarify questions and details with great joy and dedication while working on the manuscript.

Inhalt

Briefe Brigitte Reimann – Wolfgang Schreyer
Anhang
Nachwort
Anmerkungen
Abbildungen
Personenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Briefverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Biografie Brigitte Reimann
Biografie Wolfgang Schreyer
Zu dieser Ausgabe

Leseprobe

108. Wolfgang Schreyer an Brigitte Reimann
Magdeburg, 1.III.71
Liebe Brigitte,
herzlichen Dank für Deine Karte vom 11.II., und verzeih die späte Antwort und das mindere Papier (Sohn Robert hat den Rest der Kopfbögen heimlich „vermalt“, wie sich gestern herausstellte). Womit kann ich Dich nur in dieser verdammten Situation zerstreuen? Vielleicht mit meinem Brief an die HV Verlage & Buchhandel? Ich lege die Abschrift bei. Sie antworteten übrigens mit einer Gesprächs-Einladung, und gestern schrieb ich ihnen, ich käme Mitte März, aber nicht allein, sondern mit Walter Basan, und wir kämen dann nicht in eigener Sache, sondern um im Auftrag des hiesigen DSV drei Fragen zu klären, nämlich die überfällige Verkürzung der Prüfungsfristen, das Benachteiligen einzelner Autoren durch die Papierkürzung (neuerlich 15-20% gegenüber 1970) und die unzureichende Arbeit der Beiräte. Hoffentlich kriegen sie nicht noch spitz, daß sie rangungleich verhandeln, wenn sie Vertreter eines Bezirksverbands empfangen, und daß solche Gespräche eigentlich die DSV-Spitze nebst dem finsteren Henniger umgehen (d.h. dessen Entbehrlichkeit aufzeigen). Die letzte Mitgliederversammlung unter der Stabführung von Günter Braun hat uns tatsächlich legitimiert zu diesem den Prinzipien des bürokratischen Zentralismus zuwiderlaufenden Schritt. Der Walter B. übrigens ist doch sehr nett und gar nicht so ängstlich, wie ich früher immer dachte. Wußtest Du, daß er der dienstälteste Dichter am Platze ist und 1946 schon in jenem „Arbeitskreis Literatur“ debütierte – mit Oden, was auch immer das sein mag, denk Dir! –, der außerdem noch zwei Schauspielerinnen, den Kammersänger Schmidt-Walter und einen Strolch enthielt, der hübschen Mädchen u.a. etwas Tanz beibrachte? Dieser Arbeitskreis, eine Vorform des späteren Kulturbunds, gestaltete insgesamt 4 oder 5 bunte Abende, die in einem vertraglich abgesicherten Essen (für die Künstler) gipfelten. Ja, die romantische Aufbauzeit! Die kleine Brigitte muß damals noch im Sand der Neuendorfer Straße gespielt haben, während der liebe Wolfgang Tanzstunden nahm, um bald danach im Stadtgefängnis einzusitzen und später Hustenbonbons zu verkaufen. Lang ist’s her. Die Ausstrahlung des Hochstalinismus übrigens erreichte uns doch nur recht gebrochen, seltsam gemildert durch den Enthusiasmus der Pionierära. Wenn ich noch daran denke, daß mir der Rat der Stadt, irgendein wohlwollender Abteilungsleiter, im Jahre 51 einen Bezugsschein für eine Schreibmaschine gab, auf die bloße Versicherung hin, ich wolle schreiben! Heute unvorstellbar. Inzwischen hat die Bürokratie gewaltig Fett angesetzt, so daß der ganze Organismus bergauf ziemlich keucht und das Fett zu wabbeln beginnt beim Anblick etwa polnischer Ereignisse. Dadurch haben sich in unserem Beruf, wie ich seit Mitte der sechziger Jahre glaube, die Prioritäten geändert, d.h. in erster Linie sollten wir zum Fettabbau beitragen, um die Figur wieder ein bißchen attraktiv zu machen, für die zu werben wir lange Zeit ausschließlich da waren. Hast Du von Wogatzkis letztem Film gehört? Das ND brach die Lobhudelei jäh ab, nachdem gereizte Stimmen der Werktätigen lautwurden, denen man ein ganz neuartiges W.-Werk versprochen hatte, ohne Meister Falk, dafür mit meisterlichem Sex. Über verdrossene Äußerungen in den hiesigen Großbetrieben („Nu verschtehn wir jar nischt mehr“) soll die Bezirksleitung – das Ohr dichter denn je an der Masse – deutlich nach oben berichtet haben.

Genug gelästert für heute, ich berichte Dir wieder (dann nach Hause), was ich mit Walter in Berlin erfuhr. Übrigens, die Versöhnungsinitiative des großen Walter – seine Künstlerberatungen sind das immer – ist von ein paar Ultras offenbar gebremst und unterlaufen worden; die unvollständigen Abdrucke in ND und Kügelgens „Sonntag“ deuten darauf hin. Wie ich aus Verlegerkreisen erfuhr, soll unser Freund (uncertain friend of course) Kant einige seiner Äußerungen anderntags schriftlich zurückgenommen haben. Mir ist es überhaupt ein Rätsel, weshalb ein Kollege, dessen zweifellos gewichtiges Werk man beharrlich verbietet, dann nicht jene Ämter niederlegt, in deren Ausübung er doch dauernd genötigt ist, die Kulturpolitik zu vertreten, die ihn als Autor nicht zu Worte kommen läßt. Aber, wie der Chef einmal sehr richtig bemerkte, das „müssen die Genossen Künstler selber wissen, wie sie das machen“ – da mischen wir uns mal nicht ein.

Viele herzliche Grüße
Dein Wolfgang

P.S.: Die Anlage brauche ich nicht wieder, sie ist auch nicht vertraulich zu behandeln.

[Anlage]
Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik
Ministerium für Kultur
HV Verlage und Buchhandel
Abt. Belletristik, Kunst- und Musikverlage
108 Berlin
Clara-Zetkin-Str. 90

7. Januar 1971
Sehr geehrte Herren,
vielen Dank für Ihren freundlichen Brief vom 16. Dezember 1970, in dem Sie mich in sehr angenehmer Form über die „Adjutant“-Druckgenehmigung informieren, die der MDV inzwischen erhalten habe, zusammen mit Ihren Vorschlägen zu Detailänderungen. Eine gute Nachricht, wenn man seit über einem Jahr auf eine Entscheidung wartet. Gern hätte ich deshalb hier etwas zu Ihren Detailempfehlungen gesagt, aber leider liegen sie mir bis heute (drei Wochen nachdem der Verlag sie bekommen haben muß) noch immer nicht vor. Und das – dieser so großzügige Umgang mit dem Zeitfaktor – veranlaßt mich jetzt zu folgender Betrachtung.

Vor 17 Jahren, im Mai 1954, gab ich meinem Verlag (DNB) nach anderthalb Jahren Arbeit (ohne Studienzeit) das Manuskript des 900-Seiten-Romans „Unternehmen Thunderstorm“, ein Buch, das schwierige politische Fragen anschnitt, die damals von sozialistischen Historikern noch nicht bewertet worden waren. Auch delikate polnische Probleme wurden in meiner Arbeit berührt; daher war es selbstverständlich, daß sie auf dem diplomatischen Wege zur Prüfung bis nach Warschau kam, um jede denkbare Verstimmung in dem Nachbarland auszuschließen, das am längsten und schlimmsten unter dem faschistischen Raubkrieg gelitten hatte. Trotz solcher Erschwernisse erschien das Buch sechs Monate später, im November 1954, auf dem Buchmarkt der DDR und bald auch in Übersetzungen.

15 Jahre darauf, im Juli 1969, gab ich meinem Verlag (MDV) nach anderthalb Jahren Arbeit (ohne Studienzeit) das Manuskript des 400-Seiten-Romans „Der Adjutant“, ein Buch, das komplizierte Fragen der Revolution in Lateinamerika berührt, die von sozialistischen Historikern jedoch schon behandelt worden sind. Wie bei „Unternehmen Thunderstorm“ hatte ich sehr eng, nämlich von Kapitel zu Kapitel, mit einem Verlagslektor zusammengearbeitet, der daraufhin imstande war, unmittelbar nach der Ablieferung des durchkorrigierten Manuskripts sein Gutachten abzufassen. Anders aber als „Unternehmen Thunderstorm“ hatte der kaum halb so starke „Adjutant“ niemals die Chance, ein halbes Jahr nach Abschluß der Niederschrift zu erscheinen: anderthalb Jahre galten inzwischen schon als Mindestmaß; tatsächlich werden es oft zwei Jahre, zweieinhalb Jahre oder noch mehr. – Den kleineren Teil dieser Überdehnung verschulden drucktechnische Engpässe, den größeren eine m.E. ganz unangemessene Verlängerung der Prüfungsfristen. Gestatten Sie mir nun zu diesem Punkt ein paar Gedanken.

Nach meiner Erfahrung hat die Intensität und Dauer der kontrollierenden Begutachtung belletristischer Manuskripte im allgemeinen jene Grenze überschritten, bis zu der sie noch qualitätsverbessernd wirkte. Der Ablauf vollzieht sich bekanntlich in vier Etappen: Selbstbeschränkung des Autors, Prüfung durch den Verlag (2-4 Gutachten), Kontrolle durch Experten (1-3) und Endkontrolle Ihres Hauses. Diese vier Filter sind durch einen sensiblen Mechanismus psychologischer oder verwaltungsmäßiger Rückkopplung miteinander verknüpft; in Ihrem letzten Brief weisen Sie selbst auf diese „unangenehme Dialektik“ hin. Veränderungen im Bereich eines der vier Sicherungssysteme wirken sogleich auf die drei anderen zurück, was gegebenenfalls zu chronischer Verengung, Minderung der Durchlaßfähigkeit und chronischer Verstopfung führen kann, wenn nicht gar zu einer Art Darmverschluß. Der Zustand des Manuskript-Staus scheint in einigen Verlagen offenbar gegeben.

Wie diese Verstopfung im Interesse des Buchangebots, der DDR-Literatur und unserer Sache überhaupt wenn schon nicht zu beheben, so doch zu mildern ist, darüber nachzudenken ist es nach der letzten Herbstmesse wohl an der Zeit. Es erscheint mir als naheliegend, daß Sie dieses Problem bereits energisch untersuchen. Man könnte ebenso bei den Fachgutachtern einsetzen (die Literatur oft mit Propaganda gleichsetzen und vielfach glauben, kraft ihres Fachwissens ohne weiteres in künstlerische Prozesse hilfreich eingreifen zu können) wie bei den Verlagen, denen es an Ansporn von „oben“ ebenso fehlen kann wie es ihnen an Mitarbeit von „unten“ zweifellos fehlt.

Letzteres sage ich nach vierjähriger Mitgliedschaft in einem Verlagsbeirat, der hoffnungsvoll anfing, ein Organ der beratenden Mitwirkung an Verlagsentscheidungen durch Autoren, Literaturkritiker und andere Vertreter unserer Literaturgesellschaft zu sein, ehe er entschlief, da man ihm Kaffee und Kekse, aber nichts mehr zum Mitbestimmen gab. Den Verlagsbeiräten fehlt ein Statut, sie haben auch keine Vorsitzenden; die Verlagsleitungen berufen sie ein (oder nicht) und neigen angesichts ihrer sonstigen Arbeitslast dazu, die Beiräte zum bloßen Dekorationsstück zu machen. Vom DSV war keine Hilfe zu erhalten. So ging der letzte Sinn verloren: den Autoren das Gefühl zu nehmen, eher Objekt der Kulturpolitik zu sein, wie dies von berufener Seite einmal formuliert worden ist.

Mit den meisten meiner Kollegen bin ich – entgegen unseren nächstliegenden Interessen und wohl auch entgegen unserem Ruf – nicht ohne Verständnis für bestimmte Realitäten, für die Wechselwirkung kulturpolitischer Vorgänge und für das Gewicht komplizierter Abwicklungen, die etwa von Ihnen zu bewältigen sind. Denn eine Gesellschaft, die sich nicht nur an der Oberfläche, sondern bis in ihre Tiefe demokratisieren will, steht vor anderen Risiken als eine geglättete, tolerant scheinende Ausbeuterordnung, bei der das Privateigentum feste Grenzen setzt – zwar nicht der Kunstausübung, aber deren Wirkung; eine Ordnung, in der eine monopolitische Machtelite (meist manipulativ) die Spaltung von Geist und Macht zu verewigen sucht. Kein Weg führt uns – bei andauernder Konfrontation mit dem Westen – an den Risiken vorbei: am wenigsten der Dienstweg dilatorischer Behandlung jedes auch nur ansatzweise problematischen Werkes, der Amtsweg der „langen Bank“.

All das hätte ich Ihnen nicht geschrieben, wenn ich resignierend an ein Verfestigen des Zwangs zum beharrenden So-Weitermachen glaubte. Mir scheint mehr Effektivität möglich bei unseren kunstprüfenden Instanzen, in denen doch Kollegen tätig sind, die durchaus die Kraft haben, Elemente dieser und anderer Kritik von seiten der Urheber in ihre Überlegungen und Entscheidungen aufzunehmen.

Mit bestem Gruß, Ihr [Wolfgang Schreyer]



Anmerkungen zu 108. Wolfgang Schreyer an Brigitte Reimann
[...] herzlichen Dank für Deine Karte vom 11.II [...]
Die Karte von B.R., auf die sich W.S. hier bezieht, ist nicht mehr vorhanden.


Womit kann ich Dich nur in dieser verdammten Situation zerstreuen?

Die „verdammte Situation“ meint B.R.s Krebserkrankung, die von Monat zu Monat mehr Besitz von ihr ergreift, die Kliniken in Berlin-Buch und Mahlow zu ständigen Aufenthaltsorten werden lassen; nur unterbrochen von kurzen Atempausen, in denen sie trotz ständiger Schmerzen in einer Fast-Normalität zu Hause in der Neubrandenburger Gartenstraße sein kann. W.S. scheut sich in seinen Briefen davor, auf B.R.s Leiden direkt einzugehen, versucht stattdessen, ihr mit seinen detaillierten Berichten einen direkten Draht zu den Ereignissen im Schriftstellerverband zu vermitteln. Auch Christa Wolf fragt sich in ihrer wenig später entstandenen Tagebucheintragung: „Brief an Brigitte, der mir zuerst schwer fällt: Genau genommen, in welchem Ton und wie überhaupt soll man sie ermuntern?“[1] Die von W.S. in seinem Brief vom 28. Dezember namentlich erwähnte Margarete Neumann, „Deine brave M.N.“, erlaubt an dieser Stelle eine kurze Fortführung der Assoziationskette zum weiblichen Umgang mit B.R.s tragischer gesundheitlicher Situation. B.R. stirbt einen Tag nach Margarete Neumanns 56. Geburtstag, am 20. Februar 1973. Neumann, die ein Wiekhaus im Ortskern von Neubrandenburg bewohnt und ein unheimliches Haus im Wald, wird von ihrer Schriftstellerkollegin B.R. zunächst argwöhnisch beäugt und wegen ihrer Schrulligkeit und Andersartigkeit auf Abstand gehalten. Dann aber entwickelt sich zwischen den beiden Frauen eine intensive Freundschaft. Sie treffen sich, wechseln Briefe und besonders in B.R.s letzten Lebensmonaten wird Margarete Neumann, von B.R. auch Maggy genannt, eine der wichtigsten Stützen und Vertrauten in Neubrandenburg, in dessen Schriftstellerkreisen ansonsten vor allem Männer vertreten sind. Am 19. Februar 1976, ihrem 59. Geburtstag und Vorabend des dritten Todestages von B.R., erinnert sich Margarete Neumann an diese letzten Lebensmonate ihrer Freundin:


„Ich hatte eine Freundin. Ich habe sie kämpfen sehen, in ihren Augen ungläubiges Entsetzen. Warum wird sie so gnadenlos geschlagen. Wie kann das Leben, dem sie sich anvertraut hat, so Unsägliches einschließen. Sie schrieb an einem großen Buch [Franziska Linkerhand – C.G./K.S.], sie war noch nicht vierzig Jahre. Sie hatte kluge, klare Gedanken und dunkle, lebendige Augen, Mandelaugen, die ihr von einem entfernten Verwandten überkommen sein mußten. Wir liebten sie alle. Ich habe ihre Schreie noch immer im Ohr und spüre den harten, hilflosen Zugriff, mit dem sie, mit Daumen und Zeigefinger, mein Handgelenk umspannte, die drei anderen auf seltsame Art weggespreizt.“[2][3]


Wenn ich noch daran denke, daß mir der Rat der Stadt, irgendein wohlwollender Abteilungsleiter, im Jahre 51 einen Bezugsschein für eine Schreibmaschine gab [...]
B.R. bittet W.S. um eine Schreibmaschine, vermutlich um im Krankenhaus an ihrem Manuskript weiterarbeiten zu können. Das ist in der DDR nicht so ohne Weiteres zu realisieren. Im Zusammenhang mit den Bemühungen, für B.R. eine kleine, handliche und krankenhaustaugliche Schreibmaschine zu bekommen, erinnert sich W.S. an seine eigene erste Schreibmaschine.


„Für einen Zeitungswettbewerb schreibe ich zwei Kurzgeschichten im Stil der neuen Zeit. Und die ‚Tägliche Rundschau‘, das Blatt der Besatzungsmacht, honoriert sie fürstlich. Ich bin baff. Die 420 Mark sind mehr als mein Monatsgehalt. Und es gelingt mir, für diesen Betrag eine Büroschreibmaschine zu ergattern. Das Kulturamt in Magdeburg traut mir anhand der Texte zu, Schriftsteller zu werden – welche Überraschung! Bisher hab ich die Bürokratie als hemmend erlebt. Sie engt den Privathandel ein und besteuert ihn hart in klassenkämpferischem Geist. Erstmals zeigt ein Amt sich freundlich, hilft mir beim Sprung in die Selbstständigkeit.“[4]


Hast Du von Wogatzkis letztem Film gehört?
Am 31. Januar 1971 druckt das „Neue Deutschland“ auf Seite 1 die Vorankündigung für den Film (und in den Folgetagen eine Meinungsumfrage zur Ausstrahlung, die dann auf Grund der scharfen Kritik seitens der Arbeiter abgebrochen wurde).
Anlauf : Fernsehfilm. – Potsdam-Babelsberg : DEFA-Studio für Spielfilme, 1970 (TV-Erstsendung: 31.01.1971). – Regie: Egon Günther. Szenarium: Benito Wogatzki.

„‚Anlauf‘, ein neuer Fernsehfilm von Benito Wogatzki, erlebt heute abend, 20 Uhr, im ersten Programm des Fernsehfunks der DDR seine Ursendung. In diesem Film, der nach Wogatzkis Erzählung ‚Die Wichelsbacher Initiative‘ entstanden ist, stellt der Autor der populären Meister-Falk-Serie erstmals eine Liebesgeschichte in den Mittelpunkt der Handlung. Unter der feinfühligen, behutsamen Regie von Egon Günther entstand eine poesievolle, heiter-optimistische Bildschirmerzählung von der Begegnung zwischen dem Ingenieur Jochen Mollenthin und der Arbeiterin Rita, deren Liebe sich in gesellschaftlich wichtigen Entscheidungen bewähren muß. Seinen besonderen Reiz erhält der Film durch die ausgezeichneten schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller Jutta Hoffmann und Eberhard Esche. An der Kamera stand Roland Dressel.“[5]


Anmerkungen
[1] Siehe auch B.R. ausführlich in: Lit034. S. 152. [Christa Wolf/Brigitte Reimann. Sei gegrüßt und lebe. Aufbau, 2016]
[2] Margarete Neumann. Orenburger Tagebuch. Aufbau, 1977. S. 48
[3] Siehe auch ausführlich in: http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/2620-brigitte-reimanns-maggy (Stand: September 2017).
[4] Siehe auch W.S. ausführlich in: Lit044. S. 119. [Wolfgang Schreyer. Der zweite Mann. Das Neue Berlin, 2000]
[5] Neuer Fernsehfilm von Benito Wogatzki. In: Neues Deutschland (1971-01-31).

Briefe von Reiner Kunze an Brigitte Reimann





„So gut wie möglich Kunst (Literatur) machen, Brigitte, das ist uns aufgetragen“ – Briefe von Reiner Kunze an Brigitte Reimann.
Neue Rundschau 2017/4  
Hrsg. von Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler, Oliver Vogel. Mithrsg. dieser Ausgabe: Kristina Stella. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017, ISBN 978-3-10-809112-5, 182 Seiten, Broschur, EUR 15.00

Pressestimmen

„Wir sind gleichaltrig“, schreibt die Reimann. „Wir hassen den Militarismus in der Republik, dieses unausrottbare Preußentum und seine militante Sprache.“ Bekenntnisse, die in den Tagebüchern der 1973 gestorbenen Autorin zu finden sind, die im Blick auf Kunze nicht wenige eckige Auslassungsklammern liefern. Die werden jetzt nicht aufgelöst, aber etwas durchlässiger gemacht.
Christian Eger. Mitteldeutsche Zeitung, 04.01.2018

Der Leser verspürt eine innere Verbundenheit. Es ist eher Freundschaft als kollegiales Aufmuntern. Obwohl die Briefe von Reimann an Kunze fehlen, kann man ihre Zweifel an der eigenen Arbeit spüren.
Grit Warnat. Volksstimme, 03.01.2018

Leseprobe

Brigitte Reimanns und Reiner Kunzes Wege kreuzen sich zwanzig Jahre lang in freundschaftlicher Verbundenheit. Doch erst gegen Ende der sechziger Jahre, als die politische Fassade der DDR immer größere Risse bekommt und Reimann und Kunze ihre politischen Euphorien längst über Bord geworfen haben, zunehmend mit dem Literaturbetrieb in Konflikt geraten sind, zeigt sich die bedingungslose Loyalität, mit der sie einander vertrauen und helfen. Eine besondere Freundschaft, die mit dem viel zu frühen Krebstod Brigitte Reimanns ein abruptes Ende findet.

Brigitte Reimanns Briefe an Reiner Kunze sind leider nicht erhalten geblieben. Deshalb ist der vorliegende Briefband vor allem ein komprimierter Ausschnitt aus Reiner Kunzes Leben und gleichermaßen ein Querschnitt durch die wahrscheinlich wechselvollste und tragischste Zeit seines Lebens. Seine an Brigitte Reimann gerichteten Briefe spiegeln die Entwicklung beider junger Schriftsteller, die sich ohne große Worte gegenseitig Kraft, Halt und Unterstützung geben. Die – nach außen hin so gegensätzlichen – Künstler verbindet sehr viel mehr, als an der Oberfläche erkennbar ist.

Brigitte Reimann und Reiner Kunze sind äußerst sensible – ihre Freiheit über alles liebende – Individualisten, was allein schon ausreicht, um trotz literarischer Erfolge im Gesellschaftssystem der DDR immer wieder an Grenzen zu stoßen, als Bedrohung angesehen und ausgegrenzt zu werden. Beide wehren sich, auch wenn das ihrem Charakter, ihrem in Wahrheit scheuen Wesen, widerspricht, denn sie können und wollen Ungerechtigkeiten nicht ertragen. Sie machen sie öffentlich. Sei es durch aufsehenerregende Zeitungsartikel und Reden wie bei Brigitte Reimann oder durch Lyrikbände und Prosatexte mit schonungslosen Wahrheiten, die im Westen für Wirbel sorgen, bei Reiner Kunze. Sie sind Einzelgänger, die in früher Kindheit Krankheiten durchleben, die sie von ihren Altersgenossen isolieren. Die in dieser kindlichen Isolation damit beginnen, ihre Gedanken in schriftlicher Form zu ordnen und in der Zwiesprache mit sich selbst einen Ausweg aus der Einsamkeit entdecken. Sie werden viel zu früh erwachsen und sie suchen Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Ihre Familien bieten Schutz und Wärme, aber nicht den intellektuellen Rahmen, der ihre Gedankenwelt zu befriedigen vermag. Reimann und Kunze verfallen den sozialistischen Idealen im Glauben daran, hier wachse ein Staat, der sich Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat und die Förderung aller Individuen gleichermaßen.

Der Subtext, der sich durch ihre Korrespondenz zieht, ist beider gesundheitliche Verfassung, die wie ein Seismograph auf die literaturpolitische Realität reagiert. Ihre Verbindung bedarf nicht vieler Worte, auch nicht vieler Briefe – in der Summe gesehen. Reiner Kunzes Briefe sind ein Zwiegespräch, in dem der Leser die Abwesenheit der Reimannschen Briefe kaum spürt, weil Brigitte Reimanns Stimme in den Zeilen des Lyrikers Reiner Kunze so präsent ist, als wäre sie da.

Die hier erstmals veröffentlichten Briefe Reines Kunzes an Brigitte Reimann sind auch deshalb ein besonderes Zeitdokument, weil sie genau jenen Lebensabschnitt der beiden Schriftsteller begleiten, in dem sich eine entscheidende Phase der DDR-Geschichte widerspiegelt: der Wechsel von der euphorischen Aufbruchstimmung der Anfangszeit, über die Auflehnung und das Nicht-wahrhaben-Wollen der Totalität des Gesellschaftssystems bis zum Rückzug ins Private und der scheinbaren Resignation, unter der es dennoch brodelt und aus dem das unvermeidliche Ende bereits zu erahnen ist. Ein Brief Siegfried Pitschmanns an Reiner Kunze aus dem Jahr 1960, ausdrücklich auch in Brigitte Reimanns Namen geschrieben, ergänzt den Band.

Kristina Stella: Siegfried Pitschmann in Mühlhausen





Kristina Stella: Siegfried Pitschmann in Mühlhausen
Mit bisher unveröffentlichten Texten aus dem Frühwerk des Schriftstellers
Mühlhausen: Mühlhäuser Geschichts- und Denkmalpflegeverein e.V. 2017, ISBN 978-3-935547-68-0, 305 Seiten, 106 Illustrationen, Broschur, EUR 10.00 (Mühlhäuser Beiträge, Sonderheft 28). 
VERGRIFFEN.

Der Inhalt des Sonderheftes, das anlässlich Siegfried Pitschmanns 15. Todestag entstand, basiert auf ausführlichen Recherchen. Entstanden ist ein reichhaltig illustriertes Lesebuch, das einen großen Teil des bisher unveröffentlichten Frühwerks des Schriftstellers erstmalig zugänglich macht. Den Rahmen der Publikation bildet eine detaillierte biografische Studie über Siegfried Pitschmann. Sie widmet sich vor allem den Jahren 1945 bis 1959, in denen Pitschmann in Mühlhausen lebte. Untrennbar davon sind auch die Jahre bis 1945, denn Siegfried Pitschmann kam als Flüchtling nach Mühlhausen. Er trug seine Erinnerungen in sich und ohne sie waren der Neuanfang – und auch seine frühen literarischen Texte – nicht denkbar. Die Illustration zur Erzählung „Schwarze Kirschen“ gestaltete der Künstler Lorenz Andräs (1964-2016); alle übrigen Illustrationen der Pitschmann-Texte stammen von ihm selbst. Weitere Abbildungen zeigen erstmals veröffentlichte Faksimiles aus dem Mühlhäuser Stadtarchiv zu Pitschmanns Familiengeschichte und historische Fotografien, die Familie und Freunde Siegfried Pitschmanns zur Verfügung gestellt haben.

The content of the special edition, which was produced to mark the 15th anniversary of Siegfried Pitschmanns death, is based on extensive research. The result is a richly illustrated reader that makes a large part of the writers previously unpublished early work accessible for the first time. A detailed biographical study of Siegfried Pitschmann forms the framework of the publication. It is primarily dedicated to the years 1945 to 1959, during which Pitschmann lived in Mühlhausen. The years up to 1945 are also inseparable from this, as Siegfried Pitschmann came to Mühlhausen as a refugee. He carried his memories within him and without them the new beginning – and his early literary texts – would have been inconceivable. The artist Lorenz Andräs (1964-2016) created the illustration for the story „Schwarze Kirschen“; all other illustrations of Pitschmann's texts are by himself. Further illustrations show facsimiles of Pitschmann's family history from the Mühlhausen city archives, published for the first time, and historical photographs provided by Siegfried Pitschmann's family and friends.

Pressestimmen

Jetzt erinnert ein Sonderheft der Mühlhäuser Beiträge an den Schriftsteller, der von 1945 bis 1959 in dem beschaulichen Thüringer Städtchen lebte. Auf 306 Seiten folgt Kristina Stella, eine ausgewiesene Kennerin des Werks von Siegfried Pitschmann und Brigitte Reimann, den Spuren, die der junge Autor dort hinterlassen hat. Dabei verwebt sie die im Stadtarchiv, aus Tagebüchern und protokollierten Gesprächen (Marie-Elisabeth Lüdde: „Verlustanzeige“) recherchierten biografischen Fakten mit den literarischen Anfängen des schlesischen Flüchtlings, die durch Proben aus dem Frühwerk erlebbar werden. Der Vorsatz, in das Heft nur unveröffentlichte Texte des jungen Pitschmann aufzunehmen, macht es zu einem unterhaltsamen Lesebuch, das selbst Kennern seines Werks einen Mehrwert bietet.
Frank Quilitzsch. Thüringer Allgemeine, 10.01.2018

Kristina Stella, die schon zwei Nachlassbände von ihm herausgegeben hat, unter anderem den verbotenen Roman „Erziehung eines Helden“, hat sich nun mit gewohnter Akribie dem jungen Pitschmann gewidmet. In diesem neuen Band sind vor allem Texte von Pitschmann selbst aus und zu dieser Zeit zu finden. Das macht diesen Band so lesenswert und unersetzlich. Denn Siegfried Pitschmann war ein genialer Schriftsteller.
Torsten Unger. MDR Thüringen, 18.02.2018

Inhalt

Vorwort
Siegfried Pitschmann in Mühlhausen
Grünberg und frühe Kindheit
Siegfried Pitschmann: Das geschah im Winter ...
Siegfried Pitschmann: Einem Verlorenen nach.
Mühlhausen
Siegfried Pitschmann: Stoppelzeiten
Siegfried Pitschmann: Schwarze Kirschen
Die religiöse Prägung
Siegfried Pitschmann: Abseits
Siegfried Pitschmann: Das verlorene Gesicht.
Siegfried Pitschmann: Aus der kleinen Chronik der Anna Magdalena Bach.
Uhrmacher – das Besondere im Normalen
Siegfried Pitschmann: Ich suche Peter Henlein
Traumerlebnisse
Siegfried Pitschmann: Begegnungen
Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949
Siegfried Pitschmann: Alte Kalender
Siegfried Pitschmann: Sieben Sätze für ein Bekenntnis
Siegfried Pitschmann: Vom Schmerz des andern.
Siegfried Pitschmann: Nach einem Weggange.
Klaus und Ingeborg
Siegfried Pitschmann: Als Klaus stolperte
Siegfried Pitschmann: Seit Jahren hatte er einen Freund ...
Elfriede
Siegfried Pitschmann: Sina
Siegfried Pitschmann: Letzte Gästebuchseite.
Die Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren in Thüringen
Siegfried Pitschmann: Ein Mann, der Hammer heisst
Bodo Uhse und Günter Caspar
Der 17. Juni 1953
Siegfried Pitschmann: Bericht über meinen Aufenthalt im VEB Klement Gottwald, Uhren- und Maschinenfabrik Ruhla
Schwarze Pumpe und das Mädchen
Siegfried Pitschmann: Erziehung eines Helden / Briefe an das Mädchen
Brigitte Reimann
Fort von Mühlhausen – und in Gedanken immer noch dort
Kaffee und Kirschsaft – und wieder Thüringen
Verlustanzeige
Marie-Elisabeth Lüdde: Trauerfeier für Daniel Siegfried Pitschmann
Ausblick

Anhang
Editorische Anmerkungen
Quellenverzeichnis
Kurzbiografie Siegfried Pitschmann
Die Autorin

Leseprobe

Siegfried Pitschmann: Als Klaus stolperte
Als Klaus stolperte, wurde er wieder hellwach. Ich muß besser aufpassen, dachte er. Er versuchte, die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr zu erkennen. Sie standen auf vier. Aus der Ferne bellte ein Hund, eifernd und böse. „Wenn rechts Pfähle auftauchen, die im Dunkeln wie Wachtposten aussehen“, hatte man ihm gesagt, „mußt du an ihnen vorbeigehen. Beim Zwölften biegst du scharf nach links ab, – aber paß auf, daß du nicht im Kreis läufst.“

Nässe schlug kalt gegen sein Gesicht. Er zählte. Links hockten Büsche im Dämmer wie ruhende Tiere. Man hatte ihm nichts von Büschen gesagt. Ich habe mich verzählt, dachte er. Er lief zurück. Der Hund bellte noch immer, jetzt weiter von rechts. Eine Turmuhr schlug dünn. Er klappte seinen Mantelkragen hoch. Vielleicht ist es besser, ich gehe zurück, ganz zurück. Dann dachte er an Ruth, und etwas stieg ihm in der Kehle hoch. Er zählte verbissen von vorn. Das Gras war naß, als hätte es geregnet. Der Zwölfte.

Immer noch besser wie Karrenschieben, dachte er. Karren mit Futter. Im Tierkeller des Institutes warteten täglich sechshundert Versuchstiere auf ihn. Er konnte es kaum schaffen. Jetzt hatte er seinen Volontärsvertrag mit dem Institut gelöst.

Langsam wurde es grau, aber gleichzeitig war es, als verdicke sich die Luft. Die Büsche waren weg. Schwer senkte sich der Nebel. Ein Motor brummte auf von links, ein Lichtkegel stach wie ein Finger in den grauen Brei. Die Landstraße, Gottseidank. Von einem Baum tropfte es. Er wischte sich die nassen Haare aus der Stirn.

„Es hat keinen Zweck“, hatte Ruth gesagt. Sie wollte ihm noch einmal über das Haar streichen, aber er hatte sie stehengelassen. Nein danke, keine Almosen.

Das Hundegebell war verstummt. Im Osten, ihm im Rücken, schob sich ein rötlicher Streifen am Horizont hoch. Ein paar Lichter glimmten vor ihm auf, wieder schlug eine Turmuhr, fünf mal, aber diesmal war es eine andere, ihr Klang war dumpfer.

„Wenn du meinst ...“, hatte Helmut gesagt und ihn von oben bis unten betrachtet, „vielleicht denkst du noch einmal darüber nach. Du könntest hier auch zu deiner Musik kommen, besser sogar.“ „Nein, ich könnte eben nicht!“ hatte er ihm ins Gesicht geschrien. Helmut zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. „Das liegt an dir“, sagte er.

Mit verbissenen Lippen marschierte Klaus jetzt auf der Landstraße, fröstelnd, mit eingezogenen Schultern, die Hände in den Taschen vergraben.

Vor ihm lag das Land noch halb im Nebel, grau und ungewiß.

***

Frau Lingemann saß am Schreibtisch im Wohnzimmer über der Monatsabrechnung. Nebenan aus dem Sprechzimmer hörte sie das Klappern von Instrumenten und die Stimme ihres Mannes, kurz und herrisch. Der Wasserhahn rauschte, eine Tür schlug zu, dann wieder das Klirren der Instrumente, etwas fiel zur Erde.

Wenn er nur nicht immer gleich aufbrausen würde, dachte sie, er ekelt jede Assistentin hinaus. Sie sah ihn vor sich in seinem weißen Kittel, über den Behandlungsstuhl gebeugt, schnell und sicher hantierend. Kalt und nüchtern funkelte seine Brille, so kalt und nüchtern, wie er selbst war. Das Sprechzimmer blitzte vor Sauberkeit, die Bohrmaschine summte leise, durch die großen Fenster fiel die Sonne auf die vernickelten Pinzetten, Skalpelle und Zangen. Wenn ihm ein Stückchen der angerührten Bromfüllung entfiel, oder die Assistentin reichte ihm ein verkehrtes Instrument, stampfte er mit dem Fuß auf und herrschte das Mädchen an. Den Patienten aber zeigte er stets die gleiche lächelnde Maske.

Es könnte alles ganz anders sein, dachte Frau Lingemann, viel schöner. Sie starrte durch das Fenster auf den Platz hinaus, auf dem ein buntes Gewimmel war. Die Marktleute schlugen ihre Buden und Stände auf und die Käufer drängten sich schon.

Als die Glocke der Marienkirche herüberdröhnte, erschrak sie. Jetzt müßte er eigentlich im Zug sitzen, dachte sie sich, wenn alles gut gegangen ist. Sie stellte sich vor, wie ihr Junge über die Wiesen und Koppeln schlich, jemand schrie „Halt!“, aber er lief weiter, geduckt und gehetzt.

Sie stützte den Kopf in die Hand und drehte den Federhalter unruhig zwischen den Fingern. Um ihre grauen Augen zogen sich kleine Falten. In ihrem lockeren Haar schimmerten die ersten grauen Fäden. Sie zwang sich, an die Abrechnung zu denken. Ihr Herz schlug laut gegen den Hals. Er sitzt ja im Zug und alles ist gut, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.

In der Ecke stand der Flügel, stumm für wer weiß wie lange. Warum mußte er auch gehen? dachte sie. Weil er sehr begabt war, wollte er Musik studieren. Aber man hatte ihn weder in Weimar noch in Halle angenommen. Warum nur?

Sie erinnerte sich an Helmut, einen seiner Klassenkameraden, von dem sie wußte, daß er im Schülerrat war. „Das ist so eine Sache“, meinte er. Sie mochte ihn gut leiden, weil er sehr lebendig und an allem interessiert war. „Klaus hat immer so für sich gelebt, als wenn wir anderen gar nicht da waren. Na, und das gehört heute dazu, daß man sich beteiligt, an unserem ganzen Leben, meine ich.“ Er räusperte sich verlegen. „Ach so“, meinte sie und lächelte. Gott, warum sollte er denn nicht mitmachen, wenn es gut für sein Fortkommen war. Sie versuchte, Klaus das klarzumachen, aber er winkte nur unwillig ab. Da hatte sie es aufgegeben.

Sie hörte, wie im Sprechzimmer der Kompressor anlief. Ihr Mann rief im Flur nach dem Techniker. Dann klapperten wieder Instrumente. Ein Schubfach wurde geräuschvoll zugeschoben. Auf dem Schreibtisch vor ihr standen ein paar rote Astern. Die Sonne malte Kringel an die Wand.

Vor ein paar Tagen saß Klaus noch abends hier, mit Schere und Skalpell sezierte er Meerschweine und Mäuse. Unter dem Mikroskop untersuchte er die angefertigten Präparate. Es machte ihm Spaß. Sie glaubte schon, er hätte sich nun doch entschlossen, Zahnarzt zu werden wie sein Vater.

Sie starrte wieder durchs Fenster.

Und dann hatte er eines Tages erklärt, daß sein Entschluß feststünde: Er wollte es drüben versuchen. Ihr Mann tobte und brüllte, aber Klaus blieb stur. Es war eine entsetzliche Szene. Sie schloß die Augen. In der letzten Zeit war Klaus noch stiller gewesen als sonst. Sie hatte sich den Kopf zerbrochen, aber sie fand keine Erklärung. Manchmal spielte er stundenlang auf dem Flügel, verworren und wild.

Da saß sie nun, in ihrer großen kalten Wohnung, nebenan arbeitete der Mann, der ihr nichts mehr zu sagen hatte, – und sie? Mit all ihrer Liebe hatte sie ihren Sohn großgezogen, versucht, das, was ihn sein Vater entbehren ließ, durch Zärtlichkeit zu ersetzen, aber wie wenig hatte sie ihn im Grunde erkannt, wie wenig wußte sie von dem, was in ihm vorging.

Und nun war er davongegangen, fuhr schon wer weiß wo durch die fremde Landschaft, und sie saß hier, allein und mit leeren Händen.

Als das Mädchen nach ihr fragte, wischte sie sich über die Augen. Sie hätte sich jetzt hinlegen mögen und nie mehr aufstehen, so müde war sie jetzt.

Siegfried Pitschmann: Erzählungen aus Schwarze Pumpe





Siegfried Pitschmann: Erzählungen aus Schwarze Pumpe
Mit einem Gedicht von Volker Braun
Hrsg. von Kristina Stella. Bielefeld: Aisthesis 2016, ISBN 978-3-8498-1166-2, 183 Seiten, Klappenbroschur, EUR 9.95


Unter dem Titel „Erzählungen aus Schwarze Pumpe“ erschienen alle Erzählungen Pitschmanns zum Thema Schwarze Pumpe in ihren Originalfassungen erstmals gemeinsam in einem Band. Wie im Roman „Erziehung eines Helden“ illustrieren Originalfotos aus dem Archiv des Kombinates Schwarze Pumpe die literarischen Texte. Der umfangreiche Anhang enthält Siegfried Pitschmanns Rede zum Tag der Heiligen Barbara am 3. Dezember 1993 – mit der er ein letztes Mal an den Schauplatz des Geschehens zurückkehrte – sowie ein Nachwort, in dem die Entstehungsgeschichte der Erzählungen anhand von Archivmaterialien dokumentiert wird.

Under the title „Stories from Schwarze Pumpe“, all of Pitschmanns stories about Schwarze Pumpe were published in their original versions together in one volume for the first time. As in the novel „Education of a Hero“, original photos from the archive of the Schwarze Pumpe combine illustrate the literary texts. The extensive appendix contains Siegfried Pitschmanns speech on St. Barbaras Day on December 3, 1993 – with which he returned to the scene of the events for the last time – as well as an epilogue documenting the history of the stories’ creation using archive material.

Pressestimmen

Pitschmanns Schwarze-Pumpe-Kurzgeschichten beweisen, dass er zu den begnadetsten deutschen Autoren dieses Genres zu zählen ist.
Uwe Stiehler. Brandenburger Blätter, 26.02.2016

Das kennt jeder: Du beginnst zu lesen, findest das Sujet eher sperrig – zumal, wenn das Thema, hier der Aufbau-Elan in der sozialistischen Wirtschaft, schon mehr als hinreichend beleuchtet worden ist. Jedenfalls für einen, der im Osten groß geworden ist. Aber dann merkt man schnell: Verdammt, das ist große Literatur! Aus Pitschmann hätte ein Charles Bukowski werden können. Aber dafür hätte er fortgehen müssen.
Andreas Montag. Mitteldeutsche Zeitung, 27.02.2016

Die Herausgeberin erinnert sich gut daran, dass „mich viele für verrückt erklärten, als ich anfing, mich mit Pitschmann zu beschäftigen“. Die Verrücktheit hat sich gelohnt, was auch der neue Band beweist, der das bekannte Bild von Literatur aus der DDR vervollständigt.
Frank Wilhelm. Nordkurier, 02.03.2016

Inhalt

Volker Braun: Erziehung eines Helden

Erzählungen aus Schwarze Pumpe
Das Wiedersehen
Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns
Elvis feiert Geburtstag
Vom Ruhm der Unzufriedenheit
Das Fest
Die Ansprache
Ein Mann namens Salbenblatt

Anhang
Siegfried Pitschmann: Festansprache zum Tag der Heiligen Barbara
Nachwort
Editorische Anmerkungen
Quellenverzeichnis
Biografie Siegfried Pitschmann
Dank

Zur Entstehungsgeschichte der „Erzählungen aus Schwarze Pumpe“

„Es ist noch früh am Morgen, es wird gerade hell. Ich sitze in meiner wunderhübschen, bequem und zweckmäßig eingerichteten Mansarde am Fenster. Das Fenster ist offen, ich höre den Lärm der Vögel, sonst ist alles ruhig, den ganzen Tag. Die Atmosphäre dieses Hauses stachelt geradezu zum Schreiben, zum Arbeiten auf. Ich habe die ersten Versuche zur 'Erziehung eines Helden' hinter mir. Ich bin noch nicht zufrieden, habe noch nicht ganz den richtigen Ton getroffen, bin aber voll Hoffnung. Diese Sache muß und wird mir gelingen, es hängt sehr viel davon ab.“

Diese Sätze Siegfried Pitschmanns entstammen einem bisher unveröffentlichten Brief, den er 1958 aus dem Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow an eine Freundin schrieb. Ein reichliches Jahr später wurde das inzwischen vorliegende Romanmanuskript vom Schriftstellerverband und dessen Erstem Sekretär Erwin Strittmatter in einer intern geführten Diskussion verrissen und als deutliches Negativbeispiel für die sogenannte „harte Schreibweise“ gebrandmarkt. Als die Debatte auch noch in Zeitungsartikeln an die Öffentlichkeit gelangte, versuchte Siegfried Pitschmann, desillusioniert und vollkommen entmutigt, sich das Leben zu nehmen. Seine Frau Brigitte Reimann kämpfte um ihn. Pitschmann überlebte und fasste neuen Mut, als Erwin Strittmatter – seinen Fehler im Umgang mit Pitschmann und dessen Werk einsehend, ohne jedoch seine Meinung über die sogenannte „harte Schreibweise“ in Frage zu stellen – ihn von seinem schriftstellerischen Können zu überzeugen vermochte. Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann wagten einen Neuanfang auf dem – mittlerweile offiziellen – „Bitterfelder Weg“. Im September 1959 kam das Schriftstellerpaar zum Antrittsbesuch ins Kombinat Schwarze Pumpe in der Lausitz. Für Brigitte Reimann war alles Neuland:

„Vorige Woche waren wir in Hoyerswerda; wir fuhren auf gut Glück, um dem albernen und fruchtlosen Briefwechsel ein Ende zu machen. H. ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, daß ich den ganzen Tag wie besoffen herumlief. Beschreibungen will ich mir hier versagen – H. und das Kombinat werden noch oft genug – falls dies literarisch überhaupt zu bewältigen ist – in Erzählungen oder sogar einem Roman auftauchen. Daniel ist glücklich.“ [Reimann, Brigitte: Ich bedaure nichts. Aufbau, 1997]

Für Siegfried Daniel Pitschmann ist die Reise nach Schwarze Pumpe ein Wiedersehen: „Es war noch der alte Bahnhof, auf dem unser Zug hielt, ein kleiner, ganz gewöhnlicher steingrauer Provinzbahnhof, wie es sie an allen Strecken gibt.“ So beginnt seine Erzählung „Das Wiedersehen“, mit der er seinen Entschluss, die bisherigen und die kommenden Erlebnisse in Schwarze Pumpe ab jetzt in Erzählungen literarisch zu verarbeiten, in die Tat umzusetzen begann. Von 1959 bis 1967 entstanden insgesamt sieben Erzählungen zum Thema Schwarze Pumpe, die den Schauplatz mit neuen Protagonisten füllten und dabei auch die Erzählfäden des Romans wieder aufnahmen. Einige der Erzählungen wurden in der „Wochenpost“ oder in Pitschmanns Erzählbänden im Aufbau-Verlag veröffentlicht.

Leseprobe

Wie wußte er noch jenen Abend, da er seine Liebe zur Musik entdeckte. Er saß eingeklemmt in der Menge, ein bißchen unsicher und steif, und er sah angestrengt auf seine Hand mit der zusammengeknüllten Eintrittskarte und horchte nach vorn, und er fühlte sich befangen in der gleichen Andacht wie all die Menschen ringsum. Nun war er mißtrauisch gegen alles Ungenaue, aber dies, so fand er, konnte keine Gaukelei sein, in Töne gesetzt, und während er in der Pause unruhig auf und ab wanderte, fragte er sich, wer denn dieser Mensch war, der ihm heute, über mehr als ein Jahrhundert hinweg, erhabene Schauder ins Herz trieb und der zugleich hundert gute und hoffnungsvolle Gedanken in ihm weckte. Ach, er mußte sein Leben ändern. –

Aus jeder Seite, die er umblätterte, stieg Erinnerung, und manchmal spitzte er die Lippen und versuchte, ein Thema anzudeuten; sein Gedächtnis war verläßlich durch lange Übung. Jedoch hatte er bald keine Ruhe mehr, auch machte er sich gelinde Vorwürfe, daß er den Jungen hatte gehen lassen, ohne ihn einzuladen. (Bedürfnisse, wußte er, waren erlernbar, indessen hielt er jeden hitzig quengelnden Bekehrungseifer für tölpelhaft und schädlich.) Trotzdem – dachte er –, es wäre schön gewesen, und vielleicht ... Er stand auf, langte plötzlich seinen großen Hut von der Wand und nagelte ihn, entschlossen und sogleich köstlich erleichtert, über das Foto an der Schranktür.

Es war nun an der Zeit. Er drückte langsam, mit einer feierlichen Bewegung die Radiotaste nach unten. Da war der Saal. Das Flüstern der Menge. Das aufgeregte Rascheln von Programmblättern. Füße. Ein Oboenton, flüchtiges Steigen und Fallen wie Wind im Laub. Die dunkle Lachkaskade des Fagotts.

Elvis rückte vorsichtig seinen Stuhl zurück. Er spürte Herzklopfen, wie immer an solchen Abenden, und wenn er die Augen schloß, sah er sich inmitten der anderen, und er wartete wie sie voll summender Ungeduld darauf, daß es beginnen sollte.

Aber er war allein. Und so stand er noch einmal auf, kramte ein Stück Karton und seinen alten Zimmermannsblei aus dem Schrank, malte hastig ein dickes Ausrufungszeichen in die Ecke des Blattes, und dann, angespannt nach den Jungs nebenan horchend, schrieb er:

Bitte keinen Lärm. Ich sitze im Konzert. Wer Lust hat, kann hereinkommen und zuhören. Vielen Dank. Elvis.

Er heftete das Blatt von außen an seine Tür. Aus dem Radio stieg schon Beifall, und man konnte durch den Beifall hindurch den eiligen Schritt des Dirigenten ausmachen. Dann Stille, unvergleichlich, die Stille vor dem ersten Takt.

Elvis saß da, sehr gesammelt, er verschränkte lautlos die Hände, und es ziemt sich nun für uns, in den Hintergrund zu tauchen und zu schweigen, und warum sollten wir nicht, zum guten Ende, ehrliche Hoffnung haben: Vielleicht ist einer von den Jungs an der Tür.

Und dies wäre ein neuer Anfang.

Siegfried Pitschmann: Erziehung eines Helden





Siegfried Pitschmann: Erziehung eines Helden
Hrsg. von Kristina Stella. Bielefeld: Aisthesis 2019, ISBN 978-3-8498-1369-7, 249 Seiten, Klappenbroschur, EUR 12.80

Siegfried Pitschmann: Erziehung eines Helden
Hrsg. von Kristina Stella. Bielefeld: Aisthesis 2015, ISBN 978-3-8498-1100-6, 249 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, EUR 19.95

Der Roman kann als einer der ganz wenigen „Aufbauromane“ bezeichnet werden, der realistische Schilderung mit künstlerischer Qualität verbindet und er ist – vergleichbar mit Frank Beyers Film „Spur der Steine“ (1966) – Zeitzeugnis dafür, wie es vor und hinter den Kulissen der DDR-Kulturpolitik wirklich aussah. Am 12. Januar 2015 wäre der Meister der „short story“ und Wortkünstler Siegfried Pitschmann 85 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass ist sein Roman im Bielefelder Aisthesis Verlag erschienen. So hat sich der Autor endgültig durchgesetzt gegenüber jenen, die dafür sorgten, dass die „Erziehung eines Helden“ zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen konnte. Auch wenn es etwas mehr Zeit dauerte, als Siegfried Pitschmann es sich gewünscht hätte.

The novel can be described as one of the very few „reconstruction novels“ that combines realistic description with artistic quality and – comparable to Frank Beyer's film „Spur der Steine“ (1966) – it is a contemporary testimony to what it really looked like in front of and behind the scenes of GDR cultural policy. On January 12, 2015, the master of the „short story“ and word artist Siegfried Pitschmann would have turned 85 years old. To mark the occasion, his novel has been published by Aisthesis Verlag in Bielefeld. The author has thus finally prevailed over those who ensured that „Erziehung eines Helden“ could not be published during his lifetime. Even if it took a little longer than Siegfried Pitschmann would have liked.

Pressestimmen

Erst jetzt, mehr als fünf Jahrzehnte nach seiner Fertigstellung, ist das Buch im Aisthesis-Verlag Bielefeld erschienen, herausgegeben und mit einem kenntnisreichen, klugen Nachwort versehen von Kristina Stella. Weshalb sich erst jetzt ein Verlag gefunden hat, Pitschmanns literarisches Erbe anzunehmen, steht dahin – ebenso, weshalb es keines der ostdeutschen Häuser tat. Vielleicht auch deshalb, weil man nach 1990 das Verkaufen lernen musste und Bücher, die zuvor mit einem politischen Makel behaftet waren, nun aus dem vermuteten Interesse der Leserschaft gefallen schienen. Welche Ironie: So setzt sich Kulturpolitik über Zeitenwenden fort.
Andreas Montag. Mitteldeutsche Zeitung, 18.05.2015

Für Siegfried Pitschmanns „Erziehung eines Helden“ lässt sich energisch sagen: Dieses Buch ist ein Glücksgriff!
Uwe Jordan. Sächsische Zeitung, 19.05.2015

Es ist ein Dokument der Zeitgeschichte, ein authentischer Produktionsroman, der von realen Menschen erzählt und nicht von Schablonen. Und es ist die Geschichte einer unglaublichen Enttäuschung. Die Entstehungsgeschichte des Romans erzählt auch von der Tragik seines Schöpfers Siegfried Pitschmann: der erst gebrochen und dann an die Peripherie des kulturellen Lebens in der DDR gedrängt wurde. Und dem nun posthum mit dem Erscheinen des Buchs eine Art Gerechtigkeit widerfährt.
MDR Artour. 22.05.2015

„Erziehung eines Helden“ ist ein gut geschriebenes, kostbares Dokument der ungeschönten DDR-Wirklichkeit. Das Buch ist ein gut lesbares sozialistisches Anti-Märchen.
MDR Thüringen. 21.05.2015

Inhalt

Erziehung eines Helden
I Ein Mann unterwegs
II Laufzettel – Nr. 7635
III Neuling im Netz
IV Dialog über Ausnahmeleute
V Lektionen für den Langen
VI Tagebuch von Ruth P., Blatt 128
VII King Klaviers Etüde in Beton

Anhang
Ein Mann namens Salbenblatt (Erzählung von Siegfried Pitschmann)
Nachwort
Editorische Anmerkungen
Quellenverzeichnis
Biografie Siegfried Pitschmann
Dank

Leseprobe

Bald nach Mittag begann es zu regnen. Es war ein herrlicher, gleichmäßig stark strichelnder Landregen, und sein Ende war nicht abzusehen, und die Brigade zog sich, triefend vor Nässe, in die Baubude zurück.

Sie hängten ihre Jacken auf eine Schnur, die sie quer durch die Bude gezogen hatten, und einer zog seine Arbeitshose aus, die er über die dünne Kombination gestreift hatte, und hängte sie dazu, und da schaukelte sie, steif und ein bißchen komisch und regennaß mit durchgebeulten Knien, wie die abgelegte, unförmige Hülle eines ausgeschlüpften Rieseninsekts.

Martin machte den Ofen an. Das Holz knackte und qualmte etwas, und der Qualm schlich träge und flachschwadig unter der Decke lang und machte angenehm schläfrig, und die elf jungen Männer (zwei hatten sich krank gemeldet) saßen schwerfällig mit aufgestützten Ellenbogen da und horchten auf das wärmende Geprassel im Ofen und auf die Trommelmusik des Regens auf dem Budendach.

„Sauregen“, sagte Johann. Er saß in der Ecke auf einer Kiste. In dieser Ecke tropfte es von oben durch, aber Johann rührte sich nicht von der Stelle. Er hatte als einziger seinen Hut aufbehalten, (niemand konnte sich erinnern, daß er ihn jemals abgesetzt hätte,) und nun stülpte er ihn sich noch fester auf den Kopf, diesen alten, weitgereisten Uhrenträgerhut, und man konnte sehen, wie ab und zu ein Tropfen auf die verbeulte Krempe prallte und zersprühte. „Sauregen“, sagte Johann und kniff die Augen zusammen.

Zigarre, wie immer rauchend, sagte: „Da kann man nichts machen. So ’ne Pause ist auch ganz schön.“

„Zeitlohn ist Dreck“, knurrte Martin. „Heute früh haben wir allerhand rangeklotzt, und wenn es so weitergegangen wäre, hätten wir jetzt unsere hundertsiebzig Prozent in der Tasche.“ Er zog ein Spiel Karten heraus und durchblätterte es melancholisch. Sein rundes, harmloses Halbstarkengesicht zeigte Bekümmerung unterm Ansatz der borstig gestutzten Haare, die ihm etwas unerhört Komisches und Treuherziges gaben.

„Nun heule nicht“, sagte Zigarre. „Was heut nicht wird, kommt morgen dran.“

„Sauregen“, sagte Johann wieder. Er spuckte schmallippig schnalzend auf den Boden, ohne die selbstgedrehte Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen. „Mein Spalierwein braucht Sonne“, sagte er. „Ich hab mindestens zwei Zentner dranhängen.“

„Er hat zwei Zentner dranhängen“, sagte Nagel anzüglich. „Dieser Kulak.“ Nagel hätte man im Dunkeln unter hundert Leuten herausgefunden. Seine Aussprache gab vor, großstädtisch zu sein, mit den schnoddrig weichen Abrundungen gewisser Konsonanten, aber gerade der falsche Gebrauch dieser Abrundungen verriet das Ganze in seiner Großmäuligkeit als provinzschale Imitation. „Gib mal ’n Hieb Tabak rüber, du Kulak“, sagte er.

Johann, seinen Tabaksbeutel rüberreichend, brummte: „Selber Kulak.“

Am Fenster, mit dem Rücken halb zum Ofen, so daß er den Raum und ein Stück Baustelle vor dem Fenster übersehen konnte, saß der Lange (wie sie ihn jetzt nannten), unser Held mit den schmalen Handgelenken. Er saß da in der Haltung eines Mannes, den nichts aus der Ruhe bringen kann, nicht zu unterscheiden von allen anderen: einer, der dazugehörte, der sich heimisch fühlte im engen Bezirk dieser Baubude mit ihren zeitweiligen Bewohnern wie in der größeren Landschaft des ganzen Baus, und tatsächlich benahm er sich so, als wäre er hier schon immer zuhause gewesen.

Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, die Haut auf seinen Armen war braungebrannt, und man sah dick die Stränge der Adern vortreten, die den Armen etwas Muskulöses verliehen. (Heimlich, vor dem Spiegel probierte er abends seine Muskeln, und obwohl er sich sofort unwürdig kindischer Eitelkeit und Kraftmeierei bezichtigte, wuchs sein Staunen mit Andeutung von Selbstbewußtsein, wenn er feststellte, daß sich dort etwas bildete wie der harte Kern einer Frucht.)

Er fühlte sich ein bißchen müde, aber er schob es auf das Regenwetter, und vielleicht lag es auch an der ungewohnten Ruhe mitten in der Arbeitszeit und an der ungewohnten Wärme in der Bude, und er hörte gleichmütig auf die Reden der Männer, und als der Brigadier ihn fragte, wieviel Platten sie am Morgen raufgeschickt hatten, sagte er gelassen: „Genau zweiundsechzig Stück. Ganz gut für die Zeit.“

„Ja“, sagte der Brigadier, „es geht.“

Der Lange dachte: Zweiundsechzig Platten, das sind einunddreißig Fahrten, und davon hab ich die Hälfte gemacht. Nun, was willst du? Willst du davon müde sein? Kleinigkeit.

Zigarre nickte, als der Lange die Zahl nannte, er sagte: „Laß regnen, wenns regnen will. Was heut nicht drankommt, kommt morgen dran.“

„Nun sei mal vorsichtig“, sagte Otto. „Wir müssen die Halle bis zum ersten Frost unter Dach haben. Fix und fertig unter Dach mit Estrich und Isolierplatten und Gesims.“ Er sah sich langsam unter den Männern um, als erwartete er Widerspruch.

Briefwechsel Brigitte Reimann – Siegfried Pitschmann


„Ach, Jake“, sagte Brett. „Wir hätten so glücklich zusammen sein können.“ Vor uns hielt ein berittener Schutzmann in Khaki, der den Verkehr regelte. Er hob seinen Stab. Das Auto stoppte plötzlich und warf Brett eng an mich. „Ja“, sagte ich. „Wär schön gewesen.“
Ernest Hemingway, „Fiesta“




„Wär schön gewesen!“ – Der Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann
Hrsg. von Kristina Stella. Bielefeld: Aisthesis 2013, ISBN 978-3-89528-975-0, 309 Seiten, Hardcover, EUR 24.80

Die in diesem Band erstmals veröffentlichte Korrespondenz zwischen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann schließt eine Lücke in den bereits erschienenen Briefwechseln der DDR-Schriftstellerin und ermöglicht Einblicke in das private und berufliche Zusammenleben Brigitte Reimanns mit ihrem Ehemann und Schriftstellerkollegen Siegfried Pitschmann.
Der Band gibt auch Auskunft über Ereignisse, die Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern nicht thematisiert, und lässt bislang unbekannte Facetten der Autorin entdecken. Die zwischen 1958 und 1971 entstandenen Briefe zeugen darüber hinaus von der Euphorie der Künstler in der Frühzeit der DDR; sie geben ein authentisches Zeugnis aus der Zeit des „Bitterfelder Weges“ und der „Ankunftsliteratur“ und berichten vom Leben und Schreiben der Schriftsteller in der noch jungen Republik. Eine Auswahl aus den 54 Zeichnungen, die Siegfried Pitschmann für Brigitte Reimann angefertigt hat, wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. In kurzen Zwischentexten liefert die Herausgeberin Informationen, die zum besseren Verständnis der Briefe beitragen. Ein Register gibt Auskunft über die in den Briefen erwähnten Personen. Im Verzeichnis der Briefe werden alle Originalvorlagen aufgeführt, beschrieben, mit Inventarisierungsnummern versehen und ihre Aufbewahrungsorte nachgewiesen.

The correspondence between Brigitte Reimann and Siegfried Pitschmann, published for the first time in this volume, closes a gap in the previously published correspondence of the GDR writer and provides insights into Brigitte Reimanns private and professional life with her husband and fellow writer Siegfried Pitschmann.
The volume also provides information about events that Brigitte Reimann does not address in her diaries and reveals previously unknown facets of the author. The letters, written between 1958 and 1971, also bear witness to the euphoria of artists in the early days of the GDR; they provide authentic testimony from the time of the „Bitterfeld Way“ and „Arrival Literature“ and report on the life and writing of writers in the still young republic. A selection of the 54 drawings that Siegfried Pitschmann made for Brigitte Reimann is published here for the first time. In short interspersed texts, the editor provides information that contributes to a better understanding of the letters. An index provides information about the people mentioned in the letters. The index of letters lists and describes all the original documents, provides them with inventory numbers and indicates where they are kept.

Pressestimmen

Der nun veröffentlichte Briefwechsel zwischen der großen DDR-Autorin und ihrem als Schreiber hochbegabten, aber auch verkannten Mann ist ein literarisches Ereignis.
Zeit im Osten, 25.07.2013

Die Liebesgeschichte mit dem sensiblen und skrupulösen Pitschmann, der, anders als sie, ewig an seinen Texten laboriert und zu keinem Ende kommt, ist aus dem Reimann-Tagebuch vertraut. In einem nun publizierten Band mit den Briefen des Paares werden der Geschichte neue Dimensionen hinzugefügt: nicht allein die Perspektive des Ehemanns, der wunderbar zartfühlende und begehrliche Briefe schreibt, sondern auch ihr Geschick, die erotischen Eskapaden ganz anders als im Tagebuch darzustellen.
Volker Hage. Der Spiegel, 29/2013

In jedem Fall tut man gut daran, diesen Briefband parallel zu den – leider nur lückenhaft publizierten – Tagebüchern Brigitte Reimanns zu lesen, die 1997 und 1998 im Aufbau-Verlag erschienen sind.
Tilman Spreckelsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.2013

Die Briefe – angereichert mit Fotografien und mit 54 feinsinnigen Zeichnungen Siegfried Pitschmanns – sind weit mehr als ein Lückenschluss in der vielfältigen Korrespondenz der Brigitte Reimann. Sie offerieren dem heutigen Leser ganz nebenher zeitgeschichtliche Momentaufnahmen, und sie sind ein literarisches Vermächtnis, insbesondere das des Siegfried Pitschmann. Sie bezeugen die Authentizität einer aus dem Schatten geholten Schriftsteller-Persönlichkeit. Sie ermöglichen die gleichrangige Wahrnehmung eines literarischen Feingeistes, der die Kurzprosa handhabte wie ein filigranes Uhrwerk.
Hannelore Frank. Freies Wort, 09.11.2013

Inhalt

Vorwort
Hinweise zu dieser Ausgabe
Briefe Brigitte Reimann – Siegfried Pitschmann
Anhang
Personenverzeichnis
Briefverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Archivverzeichnis
Dank

Leseprobe

Am 28. März 1965 erhält Brigitte Reimann für ihre Erzählung „Die Geschwister“ den Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, und Siegfried Pitschmann, gerade zurückgekehrt von seiner Reise nach München und noch voll im Umzugsstress, schickt ihr seine Glückwünsche.

***

143. An Brigitte Reimann
25 Rostock-Südstadt, Lomonossow-Straße 14, d. 21.4.1965
Liebe Brigitte!
Bitte sei mir nicht böse, wenn ich erst heute mit meinen Glückwünschen zu Deiner Auszeichnung ankomme. Ich hab’s selber gar nicht mitgekriegt; Herbert Nachbar sagte es mir neulich, als er zu einem Informationsgespräch bei mir war. Du weißt ja, daß ich in München war, und einen Tag nach der Rückkehr kam der Möbelwagen, und es war eine einzige Hetzerei, und Du erinnerst Dich ja auch noch an den vielen „Möl“-Kram, der bei einem Umzug zu erledigen ist. Also: Ich gratuliere Dir herzlich zum Heinrich-Mann-Preis. (Der andere war Bobrowski, nicht wahr?)
Was macht Dein Buch? Wie geht es Deinem Mann? Hat er Dir erzählt, daß er mich zu Noll gefahren hatte an dem Tag, an dem ich abends nach München fuhr? München war übrigens Scheiße – entschuldige; aber ich bin nun auch nicht mehr für Gesamtdeutschland. Das sind dort unten rechte wie linke Snobs, und die linken sind eigentlich noch schlimmer, weil man ja eigentlich ihr Verbündeter sein sollte. Einem Reaktionär kann man ja ohne weiteres grob und gemein kommen. Natürlich würde ich wieder nach der Westzone fahren, wenn ich darum gebeten werde; schon allein die Bücher und Schallplatten, die ich mitgeschleppt habe, sind eine solche Mistreise wert. (Spesen waren ja ziemlich reichlich, und ich habe mit Essen usw. geknausert). Nun habe ich also auch wie Jensi Gerlachlein den Reverend Kelsey …
Der Umzugstrubel ist gottseidank vorbei, nun fange ich wieder an zu arbeiten. Ich wünsche Dir alles Gute und
grüße Dich herzlich.
Siegfried

Hat Dir Vater Reimann geschrieben, daß ich für eine Stunde bei ihm war? Ich habe in Burg (als der einzigen Stadt der DDR) im Laden „neue Kunst“ eine überbreite Liege erstanden, nachdem ich in Potsdam und Rostock vergeblich ein halbes Jahr lang bestellt hatte.

***

Der nächste Anlass für einen Briefwechsel ist ein sehr trauriger: Am 14. Oktober 1965 verunglückt Erwin Hanke, Meister in Brigitte Reimanns Brigade im Kombinat Schwarze Pumpe und enger Freund von Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann, tödlich bei einem Autounfall. Brigitte Reimanns Briefe hierzu sind leider nicht mehr vorhanden, der Inhalt kann aber in etwa rekonstruiert werden. Zunächst informiert sie Siegfried Pitschmann über Hankes Tod. Dann erhält sie einen Brief des Anwalts Hans-Gerhard Cheim, der im Auftrag von Hankes Witwe dessen Angelegenheiten regelt.

Der Hintergrund: 1960, kurz nach ihrem Umzug nach Hoyerswerda, hatte Erwin Hanke Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann eine größere Geldsumme für Möbelanschaffungen geliehen, und nun fordert der Anwalt den Betrag zurück. Obwohl sich Reimann und Pitschmann darin einig sind, den Betrag längst vollständig zurückbezahlt zu haben, lässt sich dies nicht mehr beweisen, denn die schriftlichen Unterlagen sind verloren gegangen.


***
144. An Brigitte Reimann
19.10.65
Liebe B.,
Deine Nachricht von Erwins Tod hat mich zu Boden geschlagen; ich konnte den ganzen Tag keine Zeile arbeiten. Dieses Ende ist so absurd und wahnwitzig, und ich denke dauernd drüber nach, ob Erwin wohl in der letzten Sekunde eine seiner merkwürdig trockenen, unvergleichlichen Bemerkungen gemacht hat, etwa: Na, Schwager?, ehe er begriff, ehe der Anprall ihn auslöschte – fall er überhaupt mitbekam, wie dieser verdammte Wagen plötzlich ausscherte. Es verunglücken täglich tausend Leute, immerzu wird irgendwo was weggewischt, ausgeblasen, zerschmettert, aber dieser Tod ist einfach nicht vorstellbar: Erwin, der Ritter der tausend Gefahren, der listenreiche, verläßliche, vergnügte Mann, der – in seinen Grenzen – gute Mensch, der „immer noch eins drauf“ gab – und nun einfach nicht mehr vorhanden.
Natürlich kommen jetzt erst recht Erinnerungen herauf, und ich laufe täglich in meinem Zimmer drauf herum, auf etwas, das an Erwin erinnert, – damals nämlich fuhren wir mit Erwin im Jeep nach Bernsdorf und holten meinen Teppich … Damals, damals, – und seit drei Monaten weiß ich, daß eine meiner 25 stories von Erwin handelt, gespenstigerweise in Verbindung mit einem Begräbnis, da stehen schon Notizen auf meiner Liste, und nun muß ich die Geschichte sehr bald schreiben; sie bekommt durch die heimtückische „Wirklichkeits“-Korrektur einen unheimlichen Drall, und da haben wir’s wieder: Diese Schriftsteller sind durch und durch schamlos und unmoralisch und ein Volk von Schächtern und Auswaidern …
Du verstehst – ich mußte ein bißchen über Erwin reden, nachdem ich den ganzen Tag vor mich hingeheult habe; ich hab’s auch meiner Frau erzählt, – hatte ihr früher schon, aus der „RSP-Kiste“, von ihm was vorgeschwärmt –, aber Du hast ihn gekannt. Eben deshalb. Schreib bitte keine Antwort; die Eifersucht ist mein ständiger, lebenslänglicher Verfolger, stets anders modifiziert, deshalb schreibe ich – zum erstenmal – heimlich. Ich glaube auch, daß dieser Brief gar keiner Antwort bedarf. Hoffentlich macht’s nun Deinem Mann keinen Kummer, wenn Du diese Post bekommst. – Übrigens sitze ich bereits in meiner 8. storie. Demnächst was in der Wochenpost. „Texte“ 5 enthält Stück Lodekind; Dir unbekannt.
Grüße!
D.

Buchvorstellung in Hoyerswerda am 16. Mai 2013