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Pressestimmen zu Brigitte Reimanns Roman „Die Denunziantin“


Für die Verlage war der Roman fordernder, auch im Angesicht der noch offenen Grenzen, als sie es vertreten konnten oder wollten; die Autorin und ihr Roman erschien ihnen entschiedener sozialistisch, als sie es ihrem Publikum zuzumuten wagten.
Rüdiger Bernhardt. Unsere Zeit, 06.02.2023

Wer „Die Denunziantin“ liest, bekommt eine Vorstellung davon, welchen Weg die gefeierte DDR-Schriftstellerin zurückgelegt hat – von der holprigen, politisch naiven Debütantin bis zur Verfasserin des unvollendet gebliebenen Romans „Franziska Linkerhand“.
Frank Quilitzsch. Thüringer Allgemeine, 05.01.2023

In October Reimann's unpublished debut novel, „Die Denunziantin“ („The Denunciator“), which she started writing at 19 and which was so thoroughly censored that Reimann had given up on it, was published for the first time, having been discovered in the Reimann archive in Neubrandenburg by the editor and Reimann specialist Kristina Stella.
The Guardian, 04.01.2023

Sie war eine Ikone der DDR-Literatur: Wenn jetzt ein bisher unveröffentlichtes Erstlingswerk von Brigitte Reimann erscheint, könnte man von einer Sensation sprechen.
Irmtraud Gutschke. Neues Deutschland, 19.12.2022

In „Die Denunziantin“ ist alles frisch und rein – außer den überkommenen Resten der vergangenen Ordnung. Gegen die kämpft Eva, Abiturientin, Tochter eines Antifaschisten, der von den Nazis ermordet wurde, aber verliebt in einen Jungen, der fesche Westklamotten mag und dessen Vater in West-Schiebergeschäfte verwickelt ist. Das verhängnisvolle Wort von der Wachsamkeit geht um. Obwohl nie von ihm die Rede ist, geht Stalin durch alle Auseinandersetzungen.
Norbert Wehrstedt. Leipziger Volkszeitung, 16.12.2022

Ihre Liebes- und Ehegeschichte [von Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann – K.S.], die nur wenige Jahre Bestand haben sollte, ist durch einen intensiven Briefwechsel, durch die währenddessen entstandenen Werke beider Autoren und durch Brigitte Reimanns berühmt gewordenes Tagebuch für heutige Leser lebendig und sehr plastisch geworden. Die Jahre zuvor, diejenigen, deren Tagebuchnotate Reimann dem Feuer übergeben hatte, sind es weit weniger. Auch deshalb ist das Erscheinen von Reimanns erstem Roman, „Die Denunziantin“, den Kristina Stella jetzt aus dem Nachlass herausgegeben hat, so vielversprechend – eines jener „Bücher, die nie erschienen sind“, und unter ihnen wohl das wichtigste […]
Tilman Spreckelsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2022

Liebe und Verrat. Erstens, die Denunziation, und, zweitens, die Erfahrung, eine Denunziantin zu sein, treiben den Roman an, der ein Schul- und Schülerroman ist – und ein sozialistisches Märchen, so stereotyp geht die Zeichnung der Charaktere und der politisch läuternde Verlauf der Handlung voran. Aber die Alltagselemente machen das wendungsreiche Geschehen interessant bis in die lebensnahe Sprache.
Christian Eger. Mitteldeutsche Zeitung, 08.11.2022

Was für ein Stoff! Was für ein Ton! Was für ein unbekümmertes frisches Talent! Brigitte Reimann war 19, als sie den Text begann.
Karin Grossmann. Sächsische Zeitung, 02.11.2022

Erst jetzt, 70 Jahre später, hat die Publizistin Kristina Stella die Urfassung, „Reimanns Lieblingsfassung“ in einem sorgfältig kommentierten Band herausgegeben.
Frank Wilhelm. Nordkurier, 29.10.2022

Brigitte Reimann: Die Denunziantin

„Brigitte springt mir aus jeder Zeile entgegen!“
(Irmgard Weinhofen nach der Lektüre von Brigitte Reimanns „Die Denunziantin“)





Brigitte Reimann: Die Denunziantin
Mit einem ausführlichen Anhang zur Editionsgeschichte.
Herausgegeben von Kristina Stella. Illustrationen von Jens Lay. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022. 377 Seiten. Klappenbroschur € 24.- Print ISBN 978-3-8498-1770-1. E Book ISBN 978-3-8498-1839-5.


„Die Denunziantin“ ist Brigitte Reimanns allererster Roman, mit dem sie – genau wie Siegfried Pitschmann mit seinem verschollen geglaubten, in der DDR verbotenen Roman „Erziehung eines Helden (Aisthesis, 2015) – auf fulminante Weise die literarische Bühne der DDR betreten wollte. „Die Denunziantin“ beweist aus erster Hand, wie Brigitte Reimann vom Sozialismus träumte.
Brigitte Reimann hat die Urfassung der "Denunziantin" 1952 begonnen und 1953 vollendet. Genau dieses Buch, ihr erster Roman, sollte ihr denkwürdiger Schritt auf die literarische Bühne werden, doch das misslang. Die DDR-Verlage druckten ihn nicht. Zu individualistisch, zu schillernd sei die Hauptperson der Eva Hennig geraten; schlicht einer überzeugten sozialistischen Heldin nicht würdig, lautete eine der vielen Begründungen.
Die jetzt vorliegende Erstausgabe ist jene Urfassung, die Brigitte Reimann selbst am meisten am Herzen lag. Sie ist authentisch in Sprache, Stil und politischer Einstellung der damals überzeugten FDJlerin und Neulehrerin und gleichzeitig ein aufschlussreiches Zeitdokument zum DDR-Alltag der 1950er Jahre und zur frühesten Schaffensphase der Autorin.
Fast wäre der Roman in den Archiv-Schubladen der Literaturgeschichte vergessen worden. Aber nur fast.

„Die Denunziantin“ is Brigitte Reimanns very first novel, with which she – just like Siegfried Pitschmann with his novel „Erziehung eines Helden“ (Aisthesis, 2015), which was believed to be lost and banned in the GDR – wanted to enter the literary stage of the GDR in a brilliant way. „Die Denunziantin“ provides first-hand evidence of how Brigitte Reimann dreamed of socialism.
Brigitte Reimann began the original version of „Die Denunziantin“ in 1952 and completed it in 1953. This book, her first novel, was supposed to be her memorable step onto the literary stage, but it failed. The GDR publishers did not print it. The main character of Eva Hennig was too individualistic, too dazzling; simply not worthy of a convinced socialist heroine, was one of the many reasons given.
The first edition now available is the original version that Brigitte Reimann herself held closest to her heart. It is authentic in the language, style and political attitude of the then convinced FDJ member and new teacher and at the same time a revealing contemporary document of everyday life in the GDR in the 1950s and of the author's earliest creative phase.
The novel was almost forgotten in the archive drawers of literary history. But only almost.

PRESSESTIMMEN


Inhalt

Die Denunziantin
Anhang
Nachwort
Editionsgeschichte
Fassungsvergleich
Quellenverzeichnis mit Inhaltsangaben
Editorische Anmerkungen
Zu den Illustrationen
Biografie Brigitte Reimann

Leseprobe

1. Kapitel
Immerhin war dieser 19. Februar 1951 ein Fest- und Feiertag für die beiden, den Jungen und das Mädchen, die da im S- Bahnzug durch Berlin gondelten und Sahnebonbons lutschten, die einem immer so eklig in den Zähnen kleben blieben, daß man sie kaum wieder rauskriegte, ohne daß man auf allen Anstand pfiff und die Finger als Zahnstocher benutzte.

Vor einem Fahrplan standen sie, studierend, denn beide kannten sich nicht gerade allzu gut aus in den Verkehrslinien der Weltstadt, die in diesen Jahren wieder das wurde, was sie früher gewesen war. Besonders das Mädchen starrte hilflos auf die verschlungenen Linien des Planes – sie war sowieso ziemlich kurzsichtig, man sah es an den angestrengt zusammengekniffenen Lidern –, während der blonde Hüne neben ihr bedeutend weltmännischer suchte und fand.

Sie mußte zu ihm aufschauen, als sie den schwarzhaarigen Kopf hob: „Ich finde mich einfach nicht durch, Klaus.“ „Laß man, Mäuschen“, brummte Klaus, „ich hab’s schon“, wo- bei er wütend versuchte, mit der Zungenspitze das verfluchte Sahnebonbon aus den Zähnen rauszupulen. „Friedrichstraße umsteigen, bis Warschauer Brücke – das ist, glaube ich, die dritte – warte mal, die erste, zweite –, dritte Haltestelle nach dem Alex. Na, und von da weiß ich dann schon weiter.“ Etwas gönnerhaft: „Ich bringe dich schon sicher zu deiner Tante, Eva.“ Klaus griff Eva unters Kinn, sah in die eigenartig schräggeschnittenen schwarzen Augen. In Berlin durfte man das so einfach in aller Öffentlichkeit. In Berlin durfte man noch ganz was anderes, was in der kleinen Heimatstadt verpönt war: man durfte sich am hellen Tage einhaken und so durch die Straßen bummeln, während zuhause dieses Recht eigentlich nur die Verlobten oder wenigstens die So-gut-wie-Verlobten hatten. Jedenfalls fanden das alle Muttis, und „wenn ihr auch noch so fortschrittlich seid, ein bißchen könnt ihr euch doch noch nach der guten alten Sitte richten, nicht wahr?“

Man sah das ein, benahm sich daheim sehr brav und tugendhaft und holte alles Versäumte nach, sobald man einmal in eine andere Stadt entflohen war und wußte, daß einem hier keiner zuguckte. Am schönsten war es in dieser Beziehung in Berlin, fanden Klaus und Eva. Man hätte sich hier in der S-Bahn direkt beinahe einen Kuß geben können, denn die Lampen an der Decke wurden manchmal ganz trübe, und die wenigen Leute, die auf den hellen Bänken saßen, pennten auch halb, weil es schon so spät in der Nacht war. Natürlich trauten die beiden sich trotzdem nicht, aber sie standen eng aneinandergeschmiegt und hielten heimlich ihre Hände gefaßt.

Das Mädchen sah noch immer zu seinem Freund auf, lächelnd aus den schrägen Augen. „Kleiner Mongole“, sagte der große Junge zärtlich. „Weißt du noch – heute vor einem Jahr?“ Klar wußte sie. Erstens hatten sie sich heute schon oft genug an ihr Jubiläum erinnert, und zweitens – den Tag würde sie nicht vergessen, bestimmt nie. Heute vor einem Jahr hatte Klaus ihr den ersten Kuß gegeben. Wenn das nicht ein Grund zum Feiern wäre –

„Weißt du noch“, fing Eva an, „du konntest und konntest dich einfach nicht dazu aufraffen – ich hab’s doch gemerkt.“ Klaus nickte. Ja, ganz genau wußte er noch, was für eine schreckliche Angst er ausgestanden hatte, als er mit ihr damals durch die Kastanienallee gebummelt war und er sich unter jedem Baum vorgenommen hatte, daß er sie unter dem nächsten aber ganz todsicher küssen würde. Aber er brachte und brachte es nicht fertig. Und dann waren sie aus der Kastanienallee raus und nun würde bald Evas Haus auftauchen und sie würde sich von ihm verabschieden wie seit drei Wochen jeden Abend – und wieder würde er in seinem Zimmer rumwüten und sich einen Feigling und Dummkopf schimpfen. Denn er war schrecklich verliebt. Na, und dann kamen sie zu der historischen Ecke von Evas Gartenzaun, wo man noch nicht im Licht der schmiedeeisernen Ampel über der Haustür stand, und da hatte Klaus nur gesagt: „Du, Eva.“ Ganz heiser war er vor Aufregung und Angst gewesen, er könnte es nicht richtig machen, denn er hatte vor ihr noch kein Mädchen angeguckt. Als Eva ihn dann ansah, da hatte Klaus sie eben mitten auf den Mund geküßt – hart, knabenhaft und schrecklich ungeschickt. Eva war nur ziemlich verblüfft und wußte trotz ihrer sonstigen Gewandtheit nicht, was sie im Augenblick Passendes sagen sollte, denn Klaus war ihr bis dahin nicht viel mehr gewesen als jeder andere Klassenkamerad. Eva hatte auch gar nicht recht gewußt, ob sie ihn nun auslachen oder still gerührt sein sollte, wie sich das eigentlich gehörte. Zum Glück waren sie schnell weitergegangen und hatten sich vor der Tür nur schweigend die Hand gegeben.

Von da an aber waren sie beide unzertrennlich und wurden bald in der ganzen Penne mit verständnisvollem Grienen als „Ehepaar Hoffmann“ registriert. Wo der eine auftauchte, konnte man getrost darauf wetten, daß der andere auch nicht weit sei. Und das Küssen hatte der Klaus auch schnell richtig gelernt. Feine Tricks hatten sie sich ausgedacht, um der Aufsicht von Mutti Hoffmann zu entfliehen, wenn sie nachmittags bei Hoffmanns im Wohnzimmer saßen und Schularbeiten machten. Gerade wenn Eva dem Klaus „amare“ und die schwache Konjugation abhörte, fiel Klaus plötzlich ein, daß er ausgerechnet jetzt unbedingt wissen müßte, was „coniuratio“ oder „mandare“ oder sonstwas heiße. Eva war’s im Augenblick auch entfallen, Mutti Hoffmann wußte es erst recht nicht – ja, da mußten sie eben im Wörterbuch nachgucken. Das lag aber leider in Klaus’ Zimmer, so daß sie erstmal da hingehen und das Wort suchen mußten. Na, und so schnell findet man das ja auch nicht immer, nicht wahr? In sinnvollem Wechsel waren es auch manchmal das Radioprogramm oder irgendein ungeheuer wichtiges Buch, das sie zusammen unbedingt sofort suchen mußten.

Die beiden lachten sich vergnügt an, als sie jetzt an ihre Heimtücke dachten, und sie freuten sich in sehr unartiger Weise noch nachträglich darüber, daß die Mutti Hoffmann trotz ihrer moralischen Argusaugen immer wieder prompt auf ihren frechen Schwindel reingefallen war.

Ein Jahr lang schon zusammen! Das will viel heißen bei jungen Leuten, und die beiden bewunderten sich auch schrankenlos wegen ihrer Ausdauer und Treue – wobei sie freilich im Augenblick vergaßen, daß Klaus seine Freundin erst vor wenigen Wochen abends mit einem anderen – noch dazu aus einer unteren Klasse! – im Vorgarten erwischt und ihn ohne Warnung mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte, daß der arme Bengel wochenlang mit einem dekorativen Pflaster über der Stirn durch den Schulflur lief und damit demonstrativ Evas Mitempfinden anrief, die aber inzwischen schon längst wieder reumütig zu ihrem Klaus zurückgekehrt war, dessen schlagkräftige Argumente gegen den andern ihr mächtig imponiert hatten. Der kleine Zwischenfall war schnell vergessen – wie sie sich überhaupt schnell mal zankten und dann sofort wieder vertrugen –, weil eben das Vertragen doch der angenehmste Teil war.

Klaus griff in die Tasche und bot Eva noch einen „Plombenzieher“ an (so hatten sie die Sahnebonbons getauft), während er ihr eröffnete, daß er sie – unter Garantie! – später mal heiraten würde, aber nur unter einer Bedingung. „Und die wäre?“ Eva nahm die Angelegenheit entschieden nicht ernst genug. „Ja, weißt du, wenn wir mal Kinder haben –“ „Haben wir nicht! Ich mache mir nichts aus Kindern.“ „Aber ich meine doch, wenn –“ Klaus hatte eine böse Falte zwischen den Brauen. Eva kannte das, lenkte ein: „Na, meinetwegen. Also, wenn wir nun Kinder haben, was ist denn dann?“

Jetzt wurde Klaus doch verlegen. Etwas unsicher: „Du mußt mir versprechen, daß wir das Mädchen Nelli taufen und –“ Eva hielt noch den Mund. „– und den Jungen Ödipus.“ Da verlor Eva doch die Fassung. „Ödipus – ich bitte dich!“ Mit aufreizend sanfter Besorgnis legte Eva Klaus die Hand auf die Stirn: „Und sonst fühlst du dich ganz wohl, oder –“

Ärgerlich schüttelte Klaus die Hand ab, packte sie zwischen seinen Fäusten, um Eva zur Strafe die Finger zu verrenken. Braunhäutig war sie, breit, fast eine Jungenhand, wären nicht die länglichen, gepflegten Fingernägel gewesen. „Au“, schrie Eva übertrieben laut unter dem derben Griff, daß auf der Nachbarbank ein dösender älterer Herr mißbilligend zu ihnen hinüberblickte, worauf Eva ihn mit strahlendem Lächeln so bezaubernd nett anschaute, daß er, verlegen, nicht wußte, wohin sehen.

„Olles kokettes Biest“, knurrte Klaus. Um alles in der Welt hätte er doch nicht gezeigt, was für Spaß es ihm immer machte, wenn er sah, wie die Freundin mit solchen alten Brummbären fertig wurde. Eva hatte das wirklich raus, wußte, daß sie mit ihren schönen Asiatenaugen mehr erreichte als mit langen Reden und Bitten.

„Ödipus und Nelli ...“ Genießerisch sprach Eva die Worte vor sich hin, so, daß man förmlich mitschmeckte, wie sie ihr auf der Zunge zergingen wie Mondaminpudding oder so. „Diese Klangfülle, diese Harmonie – und so modern ...“ Klaus sah Eva mißtrauisch an (weil er seine Kinder tatsächlich einmal so nennen wollte). Eva machte ein todernstes Gesicht. Plötzlich platzten beide raus und lachten trotz ihrer verpflichtenden 17 Jahre wie die Kinder – unbekümmert laut und albern. Eine verschlafene Frau fuhr aus ihrem Nickerchen auf. Der mißbilligende ältere Herr wagte gar nicht einmal mehr hinzusehen. Vielleicht dachte er, während die S-Bahn mit kreischenden Bremsen in die Halle des Bahnhofs Friedrichstraße einfuhr, daß zu seiner Zeit die Jugend sich nicht so benommen hätte, vielleicht dachte er aber auch, daß solche unverschämt schwarzen Augen eigentlich polizeilich verboten werden müßten – jedenfalls sah er den beiden nicht ohne Neid nach, die, noch immer kichernd und sich gegenseitig schubsend, aus dem Wagen sprangen und im Dunkel der Halle untertauchten.

Briefwechsel Brigitte Reimann – Wolfgang Schreyer





Ich möchte so gern ein Held sein
Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer – Der Briefwechsel

Hrsg. von Carsten Gansel und Kristina Stella. Berlin: Okapi 2018, ISBN 978-3-9816011-2-1, 540 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, EUR 26.00
Bestellung über den Verlag


Die in diesem Band erstmals veröffentlichte Korrespondenz zwischen Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer schließt eine Lücke in den bereits erschienenen Briefwechseln der DDR-Schriftstellerin. Der Band ist gleichzeitig die erste publizierte Korrespondenz Wolfgang Schreyers. Der zwischen 1955 und 1972 entstandene Briefwechsel zwischen beiden Schriftstellern ermöglicht auch bislang unbekannte Einblicke in den Literaturbetrieb der DDR.
Ein umfassender Anmerkungsapparat von 164 Seiten entschlüsselt Briefdetails und bietet Hintergrundinformationen, die nicht nur zum besseren Verständnis der Briefe beitragen, sondern auch Zusatzinformationen liefern, die das Umfeld, in dem die Briefe entstanden sind, nachvollziehbar macht. Ein Abkürzungsverzeichnis löst die von Brigitte Reimann und Wolfgang Schreyer verwendeten Kürzel auf. Die in den Briefen erwähnten Personen werden über ein Personenverzeichnis erschlossen. Im Verzeichnis der Briefe werden alle Originalvorlagen aufgeführt, beschrieben und mit Inventarisierungsnummern und Aufbewahrungsorten nachgewiesen. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle Wolfgang Schreyer, der – obwohl schon schwer erkrankt – während der Arbeit am Manuskript mit großer Freude und Hingabe mithalf, Fragen und Details zu klären.

The correspondence between Brigitte Reimann and Wolfgang Schreyer, published for the first time in this volume, closes a gap in the previously published correspondence of the GDR writer. The volume is also the first published correspondence of Wolfgang Schreyer. The correspondence between the two writers, written between 1955 and 1972, also provides previously unknown insights into the literary scene in the GDR.
A comprehensive annotation apparatus of 164 pages decodes letter details and offers background information that not only contributes to a better understanding of the letters, but also provides additional information that makes the environment in which the letters were written comprehensible. A list of abbreviations explains the abbreviations used by Brigitte Reimann and Wolfgang Schreyer. The persons mentioned in the letters are listed in an index of persons. In the index of letters, all original documents are listed, described and indexed with inventory numbers and storage locations. Special thanks are due at this point to Wolfgang Schreyer, who - although already seriously ill - helped to clarify questions and details with great joy and dedication while working on the manuscript.

Inhalt

Briefe Brigitte Reimann – Wolfgang Schreyer
Anhang
Nachwort
Anmerkungen
Abbildungen
Personenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Briefverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Biografie Brigitte Reimann
Biografie Wolfgang Schreyer
Zu dieser Ausgabe

Leseprobe

108. Wolfgang Schreyer an Brigitte Reimann
Magdeburg, 1.III.71
Liebe Brigitte,
herzlichen Dank für Deine Karte vom 11.II., und verzeih die späte Antwort und das mindere Papier (Sohn Robert hat den Rest der Kopfbögen heimlich „vermalt“, wie sich gestern herausstellte). Womit kann ich Dich nur in dieser verdammten Situation zerstreuen? Vielleicht mit meinem Brief an die HV Verlage & Buchhandel? Ich lege die Abschrift bei. Sie antworteten übrigens mit einer Gesprächs-Einladung, und gestern schrieb ich ihnen, ich käme Mitte März, aber nicht allein, sondern mit Walter Basan, und wir kämen dann nicht in eigener Sache, sondern um im Auftrag des hiesigen DSV drei Fragen zu klären, nämlich die überfällige Verkürzung der Prüfungsfristen, das Benachteiligen einzelner Autoren durch die Papierkürzung (neuerlich 15-20% gegenüber 1970) und die unzureichende Arbeit der Beiräte. Hoffentlich kriegen sie nicht noch spitz, daß sie rangungleich verhandeln, wenn sie Vertreter eines Bezirksverbands empfangen, und daß solche Gespräche eigentlich die DSV-Spitze nebst dem finsteren Henniger umgehen (d.h. dessen Entbehrlichkeit aufzeigen). Die letzte Mitgliederversammlung unter der Stabführung von Günter Braun hat uns tatsächlich legitimiert zu diesem den Prinzipien des bürokratischen Zentralismus zuwiderlaufenden Schritt. Der Walter B. übrigens ist doch sehr nett und gar nicht so ängstlich, wie ich früher immer dachte. Wußtest Du, daß er der dienstälteste Dichter am Platze ist und 1946 schon in jenem „Arbeitskreis Literatur“ debütierte – mit Oden, was auch immer das sein mag, denk Dir! –, der außerdem noch zwei Schauspielerinnen, den Kammersänger Schmidt-Walter und einen Strolch enthielt, der hübschen Mädchen u.a. etwas Tanz beibrachte? Dieser Arbeitskreis, eine Vorform des späteren Kulturbunds, gestaltete insgesamt 4 oder 5 bunte Abende, die in einem vertraglich abgesicherten Essen (für die Künstler) gipfelten. Ja, die romantische Aufbauzeit! Die kleine Brigitte muß damals noch im Sand der Neuendorfer Straße gespielt haben, während der liebe Wolfgang Tanzstunden nahm, um bald danach im Stadtgefängnis einzusitzen und später Hustenbonbons zu verkaufen. Lang ist’s her. Die Ausstrahlung des Hochstalinismus übrigens erreichte uns doch nur recht gebrochen, seltsam gemildert durch den Enthusiasmus der Pionierära. Wenn ich noch daran denke, daß mir der Rat der Stadt, irgendein wohlwollender Abteilungsleiter, im Jahre 51 einen Bezugsschein für eine Schreibmaschine gab, auf die bloße Versicherung hin, ich wolle schreiben! Heute unvorstellbar. Inzwischen hat die Bürokratie gewaltig Fett angesetzt, so daß der ganze Organismus bergauf ziemlich keucht und das Fett zu wabbeln beginnt beim Anblick etwa polnischer Ereignisse. Dadurch haben sich in unserem Beruf, wie ich seit Mitte der sechziger Jahre glaube, die Prioritäten geändert, d.h. in erster Linie sollten wir zum Fettabbau beitragen, um die Figur wieder ein bißchen attraktiv zu machen, für die zu werben wir lange Zeit ausschließlich da waren. Hast Du von Wogatzkis letztem Film gehört? Das ND brach die Lobhudelei jäh ab, nachdem gereizte Stimmen der Werktätigen lautwurden, denen man ein ganz neuartiges W.-Werk versprochen hatte, ohne Meister Falk, dafür mit meisterlichem Sex. Über verdrossene Äußerungen in den hiesigen Großbetrieben („Nu verschtehn wir jar nischt mehr“) soll die Bezirksleitung – das Ohr dichter denn je an der Masse – deutlich nach oben berichtet haben.

Genug gelästert für heute, ich berichte Dir wieder (dann nach Hause), was ich mit Walter in Berlin erfuhr. Übrigens, die Versöhnungsinitiative des großen Walter – seine Künstlerberatungen sind das immer – ist von ein paar Ultras offenbar gebremst und unterlaufen worden; die unvollständigen Abdrucke in ND und Kügelgens „Sonntag“ deuten darauf hin. Wie ich aus Verlegerkreisen erfuhr, soll unser Freund (uncertain friend of course) Kant einige seiner Äußerungen anderntags schriftlich zurückgenommen haben. Mir ist es überhaupt ein Rätsel, weshalb ein Kollege, dessen zweifellos gewichtiges Werk man beharrlich verbietet, dann nicht jene Ämter niederlegt, in deren Ausübung er doch dauernd genötigt ist, die Kulturpolitik zu vertreten, die ihn als Autor nicht zu Worte kommen läßt. Aber, wie der Chef einmal sehr richtig bemerkte, das „müssen die Genossen Künstler selber wissen, wie sie das machen“ – da mischen wir uns mal nicht ein.

Viele herzliche Grüße
Dein Wolfgang

P.S.: Die Anlage brauche ich nicht wieder, sie ist auch nicht vertraulich zu behandeln.

[Anlage]
Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik
Ministerium für Kultur
HV Verlage und Buchhandel
Abt. Belletristik, Kunst- und Musikverlage
108 Berlin
Clara-Zetkin-Str. 90

7. Januar 1971
Sehr geehrte Herren,
vielen Dank für Ihren freundlichen Brief vom 16. Dezember 1970, in dem Sie mich in sehr angenehmer Form über die „Adjutant“-Druckgenehmigung informieren, die der MDV inzwischen erhalten habe, zusammen mit Ihren Vorschlägen zu Detailänderungen. Eine gute Nachricht, wenn man seit über einem Jahr auf eine Entscheidung wartet. Gern hätte ich deshalb hier etwas zu Ihren Detailempfehlungen gesagt, aber leider liegen sie mir bis heute (drei Wochen nachdem der Verlag sie bekommen haben muß) noch immer nicht vor. Und das – dieser so großzügige Umgang mit dem Zeitfaktor – veranlaßt mich jetzt zu folgender Betrachtung.

Vor 17 Jahren, im Mai 1954, gab ich meinem Verlag (DNB) nach anderthalb Jahren Arbeit (ohne Studienzeit) das Manuskript des 900-Seiten-Romans „Unternehmen Thunderstorm“, ein Buch, das schwierige politische Fragen anschnitt, die damals von sozialistischen Historikern noch nicht bewertet worden waren. Auch delikate polnische Probleme wurden in meiner Arbeit berührt; daher war es selbstverständlich, daß sie auf dem diplomatischen Wege zur Prüfung bis nach Warschau kam, um jede denkbare Verstimmung in dem Nachbarland auszuschließen, das am längsten und schlimmsten unter dem faschistischen Raubkrieg gelitten hatte. Trotz solcher Erschwernisse erschien das Buch sechs Monate später, im November 1954, auf dem Buchmarkt der DDR und bald auch in Übersetzungen.

15 Jahre darauf, im Juli 1969, gab ich meinem Verlag (MDV) nach anderthalb Jahren Arbeit (ohne Studienzeit) das Manuskript des 400-Seiten-Romans „Der Adjutant“, ein Buch, das komplizierte Fragen der Revolution in Lateinamerika berührt, die von sozialistischen Historikern jedoch schon behandelt worden sind. Wie bei „Unternehmen Thunderstorm“ hatte ich sehr eng, nämlich von Kapitel zu Kapitel, mit einem Verlagslektor zusammengearbeitet, der daraufhin imstande war, unmittelbar nach der Ablieferung des durchkorrigierten Manuskripts sein Gutachten abzufassen. Anders aber als „Unternehmen Thunderstorm“ hatte der kaum halb so starke „Adjutant“ niemals die Chance, ein halbes Jahr nach Abschluß der Niederschrift zu erscheinen: anderthalb Jahre galten inzwischen schon als Mindestmaß; tatsächlich werden es oft zwei Jahre, zweieinhalb Jahre oder noch mehr. – Den kleineren Teil dieser Überdehnung verschulden drucktechnische Engpässe, den größeren eine m.E. ganz unangemessene Verlängerung der Prüfungsfristen. Gestatten Sie mir nun zu diesem Punkt ein paar Gedanken.

Nach meiner Erfahrung hat die Intensität und Dauer der kontrollierenden Begutachtung belletristischer Manuskripte im allgemeinen jene Grenze überschritten, bis zu der sie noch qualitätsverbessernd wirkte. Der Ablauf vollzieht sich bekanntlich in vier Etappen: Selbstbeschränkung des Autors, Prüfung durch den Verlag (2-4 Gutachten), Kontrolle durch Experten (1-3) und Endkontrolle Ihres Hauses. Diese vier Filter sind durch einen sensiblen Mechanismus psychologischer oder verwaltungsmäßiger Rückkopplung miteinander verknüpft; in Ihrem letzten Brief weisen Sie selbst auf diese „unangenehme Dialektik“ hin. Veränderungen im Bereich eines der vier Sicherungssysteme wirken sogleich auf die drei anderen zurück, was gegebenenfalls zu chronischer Verengung, Minderung der Durchlaßfähigkeit und chronischer Verstopfung führen kann, wenn nicht gar zu einer Art Darmverschluß. Der Zustand des Manuskript-Staus scheint in einigen Verlagen offenbar gegeben.

Wie diese Verstopfung im Interesse des Buchangebots, der DDR-Literatur und unserer Sache überhaupt wenn schon nicht zu beheben, so doch zu mildern ist, darüber nachzudenken ist es nach der letzten Herbstmesse wohl an der Zeit. Es erscheint mir als naheliegend, daß Sie dieses Problem bereits energisch untersuchen. Man könnte ebenso bei den Fachgutachtern einsetzen (die Literatur oft mit Propaganda gleichsetzen und vielfach glauben, kraft ihres Fachwissens ohne weiteres in künstlerische Prozesse hilfreich eingreifen zu können) wie bei den Verlagen, denen es an Ansporn von „oben“ ebenso fehlen kann wie es ihnen an Mitarbeit von „unten“ zweifellos fehlt.

Letzteres sage ich nach vierjähriger Mitgliedschaft in einem Verlagsbeirat, der hoffnungsvoll anfing, ein Organ der beratenden Mitwirkung an Verlagsentscheidungen durch Autoren, Literaturkritiker und andere Vertreter unserer Literaturgesellschaft zu sein, ehe er entschlief, da man ihm Kaffee und Kekse, aber nichts mehr zum Mitbestimmen gab. Den Verlagsbeiräten fehlt ein Statut, sie haben auch keine Vorsitzenden; die Verlagsleitungen berufen sie ein (oder nicht) und neigen angesichts ihrer sonstigen Arbeitslast dazu, die Beiräte zum bloßen Dekorationsstück zu machen. Vom DSV war keine Hilfe zu erhalten. So ging der letzte Sinn verloren: den Autoren das Gefühl zu nehmen, eher Objekt der Kulturpolitik zu sein, wie dies von berufener Seite einmal formuliert worden ist.

Mit den meisten meiner Kollegen bin ich – entgegen unseren nächstliegenden Interessen und wohl auch entgegen unserem Ruf – nicht ohne Verständnis für bestimmte Realitäten, für die Wechselwirkung kulturpolitischer Vorgänge und für das Gewicht komplizierter Abwicklungen, die etwa von Ihnen zu bewältigen sind. Denn eine Gesellschaft, die sich nicht nur an der Oberfläche, sondern bis in ihre Tiefe demokratisieren will, steht vor anderen Risiken als eine geglättete, tolerant scheinende Ausbeuterordnung, bei der das Privateigentum feste Grenzen setzt – zwar nicht der Kunstausübung, aber deren Wirkung; eine Ordnung, in der eine monopolitische Machtelite (meist manipulativ) die Spaltung von Geist und Macht zu verewigen sucht. Kein Weg führt uns – bei andauernder Konfrontation mit dem Westen – an den Risiken vorbei: am wenigsten der Dienstweg dilatorischer Behandlung jedes auch nur ansatzweise problematischen Werkes, der Amtsweg der „langen Bank“.

All das hätte ich Ihnen nicht geschrieben, wenn ich resignierend an ein Verfestigen des Zwangs zum beharrenden So-Weitermachen glaubte. Mir scheint mehr Effektivität möglich bei unseren kunstprüfenden Instanzen, in denen doch Kollegen tätig sind, die durchaus die Kraft haben, Elemente dieser und anderer Kritik von seiten der Urheber in ihre Überlegungen und Entscheidungen aufzunehmen.

Mit bestem Gruß, Ihr [Wolfgang Schreyer]



Anmerkungen zu 108. Wolfgang Schreyer an Brigitte Reimann
[...] herzlichen Dank für Deine Karte vom 11.II [...]
Die Karte von B.R., auf die sich W.S. hier bezieht, ist nicht mehr vorhanden.


Womit kann ich Dich nur in dieser verdammten Situation zerstreuen?

Die „verdammte Situation“ meint B.R.s Krebserkrankung, die von Monat zu Monat mehr Besitz von ihr ergreift, die Kliniken in Berlin-Buch und Mahlow zu ständigen Aufenthaltsorten werden lassen; nur unterbrochen von kurzen Atempausen, in denen sie trotz ständiger Schmerzen in einer Fast-Normalität zu Hause in der Neubrandenburger Gartenstraße sein kann. W.S. scheut sich in seinen Briefen davor, auf B.R.s Leiden direkt einzugehen, versucht stattdessen, ihr mit seinen detaillierten Berichten einen direkten Draht zu den Ereignissen im Schriftstellerverband zu vermitteln. Auch Christa Wolf fragt sich in ihrer wenig später entstandenen Tagebucheintragung: „Brief an Brigitte, der mir zuerst schwer fällt: Genau genommen, in welchem Ton und wie überhaupt soll man sie ermuntern?“[1] Die von W.S. in seinem Brief vom 28. Dezember namentlich erwähnte Margarete Neumann, „Deine brave M.N.“, erlaubt an dieser Stelle eine kurze Fortführung der Assoziationskette zum weiblichen Umgang mit B.R.s tragischer gesundheitlicher Situation. B.R. stirbt einen Tag nach Margarete Neumanns 56. Geburtstag, am 20. Februar 1973. Neumann, die ein Wiekhaus im Ortskern von Neubrandenburg bewohnt und ein unheimliches Haus im Wald, wird von ihrer Schriftstellerkollegin B.R. zunächst argwöhnisch beäugt und wegen ihrer Schrulligkeit und Andersartigkeit auf Abstand gehalten. Dann aber entwickelt sich zwischen den beiden Frauen eine intensive Freundschaft. Sie treffen sich, wechseln Briefe und besonders in B.R.s letzten Lebensmonaten wird Margarete Neumann, von B.R. auch Maggy genannt, eine der wichtigsten Stützen und Vertrauten in Neubrandenburg, in dessen Schriftstellerkreisen ansonsten vor allem Männer vertreten sind. Am 19. Februar 1976, ihrem 59. Geburtstag und Vorabend des dritten Todestages von B.R., erinnert sich Margarete Neumann an diese letzten Lebensmonate ihrer Freundin:


„Ich hatte eine Freundin. Ich habe sie kämpfen sehen, in ihren Augen ungläubiges Entsetzen. Warum wird sie so gnadenlos geschlagen. Wie kann das Leben, dem sie sich anvertraut hat, so Unsägliches einschließen. Sie schrieb an einem großen Buch [Franziska Linkerhand – C.G./K.S.], sie war noch nicht vierzig Jahre. Sie hatte kluge, klare Gedanken und dunkle, lebendige Augen, Mandelaugen, die ihr von einem entfernten Verwandten überkommen sein mußten. Wir liebten sie alle. Ich habe ihre Schreie noch immer im Ohr und spüre den harten, hilflosen Zugriff, mit dem sie, mit Daumen und Zeigefinger, mein Handgelenk umspannte, die drei anderen auf seltsame Art weggespreizt.“[2][3]


Wenn ich noch daran denke, daß mir der Rat der Stadt, irgendein wohlwollender Abteilungsleiter, im Jahre 51 einen Bezugsschein für eine Schreibmaschine gab [...]
B.R. bittet W.S. um eine Schreibmaschine, vermutlich um im Krankenhaus an ihrem Manuskript weiterarbeiten zu können. Das ist in der DDR nicht so ohne Weiteres zu realisieren. Im Zusammenhang mit den Bemühungen, für B.R. eine kleine, handliche und krankenhaustaugliche Schreibmaschine zu bekommen, erinnert sich W.S. an seine eigene erste Schreibmaschine.


„Für einen Zeitungswettbewerb schreibe ich zwei Kurzgeschichten im Stil der neuen Zeit. Und die ‚Tägliche Rundschau‘, das Blatt der Besatzungsmacht, honoriert sie fürstlich. Ich bin baff. Die 420 Mark sind mehr als mein Monatsgehalt. Und es gelingt mir, für diesen Betrag eine Büroschreibmaschine zu ergattern. Das Kulturamt in Magdeburg traut mir anhand der Texte zu, Schriftsteller zu werden – welche Überraschung! Bisher hab ich die Bürokratie als hemmend erlebt. Sie engt den Privathandel ein und besteuert ihn hart in klassenkämpferischem Geist. Erstmals zeigt ein Amt sich freundlich, hilft mir beim Sprung in die Selbstständigkeit.“[4]


Hast Du von Wogatzkis letztem Film gehört?
Am 31. Januar 1971 druckt das „Neue Deutschland“ auf Seite 1 die Vorankündigung für den Film (und in den Folgetagen eine Meinungsumfrage zur Ausstrahlung, die dann auf Grund der scharfen Kritik seitens der Arbeiter abgebrochen wurde).
Anlauf : Fernsehfilm. – Potsdam-Babelsberg : DEFA-Studio für Spielfilme, 1970 (TV-Erstsendung: 31.01.1971). – Regie: Egon Günther. Szenarium: Benito Wogatzki.

„‚Anlauf‘, ein neuer Fernsehfilm von Benito Wogatzki, erlebt heute abend, 20 Uhr, im ersten Programm des Fernsehfunks der DDR seine Ursendung. In diesem Film, der nach Wogatzkis Erzählung ‚Die Wichelsbacher Initiative‘ entstanden ist, stellt der Autor der populären Meister-Falk-Serie erstmals eine Liebesgeschichte in den Mittelpunkt der Handlung. Unter der feinfühligen, behutsamen Regie von Egon Günther entstand eine poesievolle, heiter-optimistische Bildschirmerzählung von der Begegnung zwischen dem Ingenieur Jochen Mollenthin und der Arbeiterin Rita, deren Liebe sich in gesellschaftlich wichtigen Entscheidungen bewähren muß. Seinen besonderen Reiz erhält der Film durch die ausgezeichneten schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller Jutta Hoffmann und Eberhard Esche. An der Kamera stand Roland Dressel.“[5]


Anmerkungen
[1] Siehe auch B.R. ausführlich in: Lit034. S. 152. [Christa Wolf/Brigitte Reimann. Sei gegrüßt und lebe. Aufbau, 2016]
[2] Margarete Neumann. Orenburger Tagebuch. Aufbau, 1977. S. 48
[3] Siehe auch ausführlich in: http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/2620-brigitte-reimanns-maggy (Stand: September 2017).
[4] Siehe auch W.S. ausführlich in: Lit044. S. 119. [Wolfgang Schreyer. Der zweite Mann. Das Neue Berlin, 2000]
[5] Neuer Fernsehfilm von Benito Wogatzki. In: Neues Deutschland (1971-01-31).

Briefe von Reiner Kunze an Brigitte Reimann





„So gut wie möglich Kunst (Literatur) machen, Brigitte, das ist uns aufgetragen“ – Briefe von Reiner Kunze an Brigitte Reimann.
Neue Rundschau 2017/4  
Hrsg. von Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler, Oliver Vogel. Mithrsg. dieser Ausgabe: Kristina Stella. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017, ISBN 978-3-10-809112-5, 182 Seiten, Broschur, EUR 15.00

Pressestimmen

„Wir sind gleichaltrig“, schreibt die Reimann. „Wir hassen den Militarismus in der Republik, dieses unausrottbare Preußentum und seine militante Sprache.“ Bekenntnisse, die in den Tagebüchern der 1973 gestorbenen Autorin zu finden sind, die im Blick auf Kunze nicht wenige eckige Auslassungsklammern liefern. Die werden jetzt nicht aufgelöst, aber etwas durchlässiger gemacht.
Christian Eger. Mitteldeutsche Zeitung, 04.01.2018

Der Leser verspürt eine innere Verbundenheit. Es ist eher Freundschaft als kollegiales Aufmuntern. Obwohl die Briefe von Reimann an Kunze fehlen, kann man ihre Zweifel an der eigenen Arbeit spüren.
Grit Warnat. Volksstimme, 03.01.2018

Leseprobe

Brigitte Reimanns und Reiner Kunzes Wege kreuzen sich zwanzig Jahre lang in freundschaftlicher Verbundenheit. Doch erst gegen Ende der sechziger Jahre, als die politische Fassade der DDR immer größere Risse bekommt und Reimann und Kunze ihre politischen Euphorien längst über Bord geworfen haben, zunehmend mit dem Literaturbetrieb in Konflikt geraten sind, zeigt sich die bedingungslose Loyalität, mit der sie einander vertrauen und helfen. Eine besondere Freundschaft, die mit dem viel zu frühen Krebstod Brigitte Reimanns ein abruptes Ende findet.

Brigitte Reimanns Briefe an Reiner Kunze sind leider nicht erhalten geblieben. Deshalb ist der vorliegende Briefband vor allem ein komprimierter Ausschnitt aus Reiner Kunzes Leben und gleichermaßen ein Querschnitt durch die wahrscheinlich wechselvollste und tragischste Zeit seines Lebens. Seine an Brigitte Reimann gerichteten Briefe spiegeln die Entwicklung beider junger Schriftsteller, die sich ohne große Worte gegenseitig Kraft, Halt und Unterstützung geben. Die – nach außen hin so gegensätzlichen – Künstler verbindet sehr viel mehr, als an der Oberfläche erkennbar ist.

Brigitte Reimann und Reiner Kunze sind äußerst sensible – ihre Freiheit über alles liebende – Individualisten, was allein schon ausreicht, um trotz literarischer Erfolge im Gesellschaftssystem der DDR immer wieder an Grenzen zu stoßen, als Bedrohung angesehen und ausgegrenzt zu werden. Beide wehren sich, auch wenn das ihrem Charakter, ihrem in Wahrheit scheuen Wesen, widerspricht, denn sie können und wollen Ungerechtigkeiten nicht ertragen. Sie machen sie öffentlich. Sei es durch aufsehenerregende Zeitungsartikel und Reden wie bei Brigitte Reimann oder durch Lyrikbände und Prosatexte mit schonungslosen Wahrheiten, die im Westen für Wirbel sorgen, bei Reiner Kunze. Sie sind Einzelgänger, die in früher Kindheit Krankheiten durchleben, die sie von ihren Altersgenossen isolieren. Die in dieser kindlichen Isolation damit beginnen, ihre Gedanken in schriftlicher Form zu ordnen und in der Zwiesprache mit sich selbst einen Ausweg aus der Einsamkeit entdecken. Sie werden viel zu früh erwachsen und sie suchen Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Ihre Familien bieten Schutz und Wärme, aber nicht den intellektuellen Rahmen, der ihre Gedankenwelt zu befriedigen vermag. Reimann und Kunze verfallen den sozialistischen Idealen im Glauben daran, hier wachse ein Staat, der sich Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat und die Förderung aller Individuen gleichermaßen.

Der Subtext, der sich durch ihre Korrespondenz zieht, ist beider gesundheitliche Verfassung, die wie ein Seismograph auf die literaturpolitische Realität reagiert. Ihre Verbindung bedarf nicht vieler Worte, auch nicht vieler Briefe – in der Summe gesehen. Reiner Kunzes Briefe sind ein Zwiegespräch, in dem der Leser die Abwesenheit der Reimannschen Briefe kaum spürt, weil Brigitte Reimanns Stimme in den Zeilen des Lyrikers Reiner Kunze so präsent ist, als wäre sie da.

Die hier erstmals veröffentlichten Briefe Reines Kunzes an Brigitte Reimann sind auch deshalb ein besonderes Zeitdokument, weil sie genau jenen Lebensabschnitt der beiden Schriftsteller begleiten, in dem sich eine entscheidende Phase der DDR-Geschichte widerspiegelt: der Wechsel von der euphorischen Aufbruchstimmung der Anfangszeit, über die Auflehnung und das Nicht-wahrhaben-Wollen der Totalität des Gesellschaftssystems bis zum Rückzug ins Private und der scheinbaren Resignation, unter der es dennoch brodelt und aus dem das unvermeidliche Ende bereits zu erahnen ist. Ein Brief Siegfried Pitschmanns an Reiner Kunze aus dem Jahr 1960, ausdrücklich auch in Brigitte Reimanns Namen geschrieben, ergänzt den Band.

Briefwechsel Brigitte Reimann – Siegfried Pitschmann


„Ach, Jake“, sagte Brett. „Wir hätten so glücklich zusammen sein können.“ Vor uns hielt ein berittener Schutzmann in Khaki, der den Verkehr regelte. Er hob seinen Stab. Das Auto stoppte plötzlich und warf Brett eng an mich. „Ja“, sagte ich. „Wär schön gewesen.“
Ernest Hemingway, „Fiesta“




„Wär schön gewesen!“ – Der Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann
Hrsg. von Kristina Stella. Bielefeld: Aisthesis 2013, ISBN 978-3-89528-975-0, 309 Seiten, Hardcover, EUR 24.80

Die in diesem Band erstmals veröffentlichte Korrespondenz zwischen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann schließt eine Lücke in den bereits erschienenen Briefwechseln der DDR-Schriftstellerin und ermöglicht Einblicke in das private und berufliche Zusammenleben Brigitte Reimanns mit ihrem Ehemann und Schriftstellerkollegen Siegfried Pitschmann.
Der Band gibt auch Auskunft über Ereignisse, die Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern nicht thematisiert, und lässt bislang unbekannte Facetten der Autorin entdecken. Die zwischen 1958 und 1971 entstandenen Briefe zeugen darüber hinaus von der Euphorie der Künstler in der Frühzeit der DDR; sie geben ein authentisches Zeugnis aus der Zeit des „Bitterfelder Weges“ und der „Ankunftsliteratur“ und berichten vom Leben und Schreiben der Schriftsteller in der noch jungen Republik. Eine Auswahl aus den 54 Zeichnungen, die Siegfried Pitschmann für Brigitte Reimann angefertigt hat, wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. In kurzen Zwischentexten liefert die Herausgeberin Informationen, die zum besseren Verständnis der Briefe beitragen. Ein Register gibt Auskunft über die in den Briefen erwähnten Personen. Im Verzeichnis der Briefe werden alle Originalvorlagen aufgeführt, beschrieben, mit Inventarisierungsnummern versehen und ihre Aufbewahrungsorte nachgewiesen.

The correspondence between Brigitte Reimann and Siegfried Pitschmann, published for the first time in this volume, closes a gap in the previously published correspondence of the GDR writer and provides insights into Brigitte Reimanns private and professional life with her husband and fellow writer Siegfried Pitschmann.
The volume also provides information about events that Brigitte Reimann does not address in her diaries and reveals previously unknown facets of the author. The letters, written between 1958 and 1971, also bear witness to the euphoria of artists in the early days of the GDR; they provide authentic testimony from the time of the „Bitterfeld Way“ and „Arrival Literature“ and report on the life and writing of writers in the still young republic. A selection of the 54 drawings that Siegfried Pitschmann made for Brigitte Reimann is published here for the first time. In short interspersed texts, the editor provides information that contributes to a better understanding of the letters. An index provides information about the people mentioned in the letters. The index of letters lists and describes all the original documents, provides them with inventory numbers and indicates where they are kept.

Pressestimmen

Der nun veröffentlichte Briefwechsel zwischen der großen DDR-Autorin und ihrem als Schreiber hochbegabten, aber auch verkannten Mann ist ein literarisches Ereignis.
Zeit im Osten, 25.07.2013

Die Liebesgeschichte mit dem sensiblen und skrupulösen Pitschmann, der, anders als sie, ewig an seinen Texten laboriert und zu keinem Ende kommt, ist aus dem Reimann-Tagebuch vertraut. In einem nun publizierten Band mit den Briefen des Paares werden der Geschichte neue Dimensionen hinzugefügt: nicht allein die Perspektive des Ehemanns, der wunderbar zartfühlende und begehrliche Briefe schreibt, sondern auch ihr Geschick, die erotischen Eskapaden ganz anders als im Tagebuch darzustellen.
Volker Hage. Der Spiegel, 29/2013

In jedem Fall tut man gut daran, diesen Briefband parallel zu den – leider nur lückenhaft publizierten – Tagebüchern Brigitte Reimanns zu lesen, die 1997 und 1998 im Aufbau-Verlag erschienen sind.
Tilman Spreckelsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.2013

Die Briefe – angereichert mit Fotografien und mit 54 feinsinnigen Zeichnungen Siegfried Pitschmanns – sind weit mehr als ein Lückenschluss in der vielfältigen Korrespondenz der Brigitte Reimann. Sie offerieren dem heutigen Leser ganz nebenher zeitgeschichtliche Momentaufnahmen, und sie sind ein literarisches Vermächtnis, insbesondere das des Siegfried Pitschmann. Sie bezeugen die Authentizität einer aus dem Schatten geholten Schriftsteller-Persönlichkeit. Sie ermöglichen die gleichrangige Wahrnehmung eines literarischen Feingeistes, der die Kurzprosa handhabte wie ein filigranes Uhrwerk.
Hannelore Frank. Freies Wort, 09.11.2013

Inhalt

Vorwort
Hinweise zu dieser Ausgabe
Briefe Brigitte Reimann – Siegfried Pitschmann
Anhang
Personenverzeichnis
Briefverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Archivverzeichnis
Dank

Leseprobe

Am 28. März 1965 erhält Brigitte Reimann für ihre Erzählung „Die Geschwister“ den Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, und Siegfried Pitschmann, gerade zurückgekehrt von seiner Reise nach München und noch voll im Umzugsstress, schickt ihr seine Glückwünsche.

***

143. An Brigitte Reimann
25 Rostock-Südstadt, Lomonossow-Straße 14, d. 21.4.1965
Liebe Brigitte!
Bitte sei mir nicht böse, wenn ich erst heute mit meinen Glückwünschen zu Deiner Auszeichnung ankomme. Ich hab’s selber gar nicht mitgekriegt; Herbert Nachbar sagte es mir neulich, als er zu einem Informationsgespräch bei mir war. Du weißt ja, daß ich in München war, und einen Tag nach der Rückkehr kam der Möbelwagen, und es war eine einzige Hetzerei, und Du erinnerst Dich ja auch noch an den vielen „Möl“-Kram, der bei einem Umzug zu erledigen ist. Also: Ich gratuliere Dir herzlich zum Heinrich-Mann-Preis. (Der andere war Bobrowski, nicht wahr?)
Was macht Dein Buch? Wie geht es Deinem Mann? Hat er Dir erzählt, daß er mich zu Noll gefahren hatte an dem Tag, an dem ich abends nach München fuhr? München war übrigens Scheiße – entschuldige; aber ich bin nun auch nicht mehr für Gesamtdeutschland. Das sind dort unten rechte wie linke Snobs, und die linken sind eigentlich noch schlimmer, weil man ja eigentlich ihr Verbündeter sein sollte. Einem Reaktionär kann man ja ohne weiteres grob und gemein kommen. Natürlich würde ich wieder nach der Westzone fahren, wenn ich darum gebeten werde; schon allein die Bücher und Schallplatten, die ich mitgeschleppt habe, sind eine solche Mistreise wert. (Spesen waren ja ziemlich reichlich, und ich habe mit Essen usw. geknausert). Nun habe ich also auch wie Jensi Gerlachlein den Reverend Kelsey …
Der Umzugstrubel ist gottseidank vorbei, nun fange ich wieder an zu arbeiten. Ich wünsche Dir alles Gute und
grüße Dich herzlich.
Siegfried

Hat Dir Vater Reimann geschrieben, daß ich für eine Stunde bei ihm war? Ich habe in Burg (als der einzigen Stadt der DDR) im Laden „neue Kunst“ eine überbreite Liege erstanden, nachdem ich in Potsdam und Rostock vergeblich ein halbes Jahr lang bestellt hatte.

***

Der nächste Anlass für einen Briefwechsel ist ein sehr trauriger: Am 14. Oktober 1965 verunglückt Erwin Hanke, Meister in Brigitte Reimanns Brigade im Kombinat Schwarze Pumpe und enger Freund von Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann, tödlich bei einem Autounfall. Brigitte Reimanns Briefe hierzu sind leider nicht mehr vorhanden, der Inhalt kann aber in etwa rekonstruiert werden. Zunächst informiert sie Siegfried Pitschmann über Hankes Tod. Dann erhält sie einen Brief des Anwalts Hans-Gerhard Cheim, der im Auftrag von Hankes Witwe dessen Angelegenheiten regelt.

Der Hintergrund: 1960, kurz nach ihrem Umzug nach Hoyerswerda, hatte Erwin Hanke Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann eine größere Geldsumme für Möbelanschaffungen geliehen, und nun fordert der Anwalt den Betrag zurück. Obwohl sich Reimann und Pitschmann darin einig sind, den Betrag längst vollständig zurückbezahlt zu haben, lässt sich dies nicht mehr beweisen, denn die schriftlichen Unterlagen sind verloren gegangen.


***
144. An Brigitte Reimann
19.10.65
Liebe B.,
Deine Nachricht von Erwins Tod hat mich zu Boden geschlagen; ich konnte den ganzen Tag keine Zeile arbeiten. Dieses Ende ist so absurd und wahnwitzig, und ich denke dauernd drüber nach, ob Erwin wohl in der letzten Sekunde eine seiner merkwürdig trockenen, unvergleichlichen Bemerkungen gemacht hat, etwa: Na, Schwager?, ehe er begriff, ehe der Anprall ihn auslöschte – fall er überhaupt mitbekam, wie dieser verdammte Wagen plötzlich ausscherte. Es verunglücken täglich tausend Leute, immerzu wird irgendwo was weggewischt, ausgeblasen, zerschmettert, aber dieser Tod ist einfach nicht vorstellbar: Erwin, der Ritter der tausend Gefahren, der listenreiche, verläßliche, vergnügte Mann, der – in seinen Grenzen – gute Mensch, der „immer noch eins drauf“ gab – und nun einfach nicht mehr vorhanden.
Natürlich kommen jetzt erst recht Erinnerungen herauf, und ich laufe täglich in meinem Zimmer drauf herum, auf etwas, das an Erwin erinnert, – damals nämlich fuhren wir mit Erwin im Jeep nach Bernsdorf und holten meinen Teppich … Damals, damals, – und seit drei Monaten weiß ich, daß eine meiner 25 stories von Erwin handelt, gespenstigerweise in Verbindung mit einem Begräbnis, da stehen schon Notizen auf meiner Liste, und nun muß ich die Geschichte sehr bald schreiben; sie bekommt durch die heimtückische „Wirklichkeits“-Korrektur einen unheimlichen Drall, und da haben wir’s wieder: Diese Schriftsteller sind durch und durch schamlos und unmoralisch und ein Volk von Schächtern und Auswaidern …
Du verstehst – ich mußte ein bißchen über Erwin reden, nachdem ich den ganzen Tag vor mich hingeheult habe; ich hab’s auch meiner Frau erzählt, – hatte ihr früher schon, aus der „RSP-Kiste“, von ihm was vorgeschwärmt –, aber Du hast ihn gekannt. Eben deshalb. Schreib bitte keine Antwort; die Eifersucht ist mein ständiger, lebenslänglicher Verfolger, stets anders modifiziert, deshalb schreibe ich – zum erstenmal – heimlich. Ich glaube auch, daß dieser Brief gar keiner Antwort bedarf. Hoffentlich macht’s nun Deinem Mann keinen Kummer, wenn Du diese Post bekommst. – Übrigens sitze ich bereits in meiner 8. storie. Demnächst was in der Wochenpost. „Texte“ 5 enthält Stück Lodekind; Dir unbekannt.
Grüße!
D.

Buchvorstellung in Hoyerswerda am 16. Mai 2013

Kristina Stella: Brigitte Reimann – Kommentierte Bibliografie und Werkverzeichnis

„Ich glaube, man sollte die Literatur natürlicherweise als einen Lesesaal oder ein Laboratorium betrachten. Dort wird nicht viel geredet; man eignet sich Dinge an, man forscht nach Wahrheit.“
(Stephan Hermlin, in „Sinn und Form“, 1965)


Kristina Stella: Brigitte Reimann – Kommentierte Bibliografie und Werkverzeichnis
Teil A. Primärliteratur. Bielefeld: Aisthesis 2014. ISBN 978-3-8498-1080-1, 1.732 Seiten in zwei Bänden, Hardcover, EUR 248.00 (Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte ; 22)

Das umfangreiche Nachschlagewerk ermöglicht erstmalig einen vollständigen Überblick über das Werk der 1973 gestorbenen DDR-Schriftstellerin. Es verzeichnet die Primärliteratur und enthält zahlreiche Hintergrundinformationen zu den Werken und deren unterschiedlichen Ausgaben. Der Nachweis der Originalmanuskripte und der umfangreichen Korrespondenz Brigitte Reimanns mit Privatpersonen und Institutionen bietet eine umfassende Übersicht über die in den Archiven vorhandenen Dokumente. Bühnenwerke, Rundfunksendungen, Fernsehsendungen und Veranstaltungen mit Beteiligung von Brigitte Reimann werden in Auswahl nachgewiesen.

This comprehensive reference work provides the first complete overview of the work of the GDR writer, who died in 1973. It lists the primary literature and contains a wealth of background information on the works and their various editions. The index of original manuscripts and Brigitte Reimann’s extensive correspondence with private individuals and institutions provides a comprehensive overview of the documents available in the archives. A selection of stage works, radio broadcasts, television programs and events with Brigitte Reimann's participation are listed.

Pressestimmen

Das Verdienst des Bielefelder Aisthesis-Verlags, der das Fähnchen der gedruckten Bibliographien wie kein anderer in einer Zeit hochhält, in der diese Textsorte vom Aussterben bedroht ist, wurde vom Rezensenten dadurch gewürdigt, daß alle Bände der seit 1992 erscheinenden Reihe „Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte“ in IFB besprochen wurden.
Klaus Schreiber. IFB, 15.09.2014

Jetzt liege ein Werk vor, wie es für Autoren des 20. Jahrhunderts selten ist, befand Martin Schmidt.
Katrin Demczenko. Lausitzer Rundschau, 30.10.2014

Zusammenfassend ist festzustellen: es ist ein geradezu monumentaler Zugang zu dem Werk der Schriftstellerin entstanden. Für die zukünftige Beschäftigung mit Leben und Werk von Brigitte Reimann ist es ein unentbehrliches Hilfsmittel.
Harro Kieser. Mitteldeutsches Jahrbuch, 2016

Man muss vor dieser Arbeit den Hut ziehen und kann künftige Reimann-Forscher und Fans nur beglückwünschen, mit solcher Vorarbeit in das Werk eindringen zu können.
Christel Berger. Neues Deutschland, 15.01.2015

Inhalt

Teil A Primärliteratur

Band I
I Vorwort
II Dank
III Lebenschronik Brigitte Reimann
IV Hinweise zur Benutzung der Bibliografie
V Archivverzeichnis

1 Selbstständig erschienene Werke
1.1 Literarische Texte
1.1.1 Der Tod der schönen Helena
1.1.2 Die Frau am Pranger
1.1.3 Kinder von Hellas
1.1.4 Das Geständnis
1.1.5 Ein Mann steht vor der Tür
1.1.6 Sieben Scheffel Salz
1.1.7 Ankunft im Alltag
1.1.8 Die Geschwister
1.1.9 Das grüne Licht der Steppen
1.1.10 Franziska Linkerhand
1.1.11 Katja
1.1.12 Sammlungen

1.2 Tagebücher und Briefe
1.2.1 Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern
1.2.2 Die geliebte, die verfluchte Hoffnung
1.2.3 Sei gegrüßt und lebe
1.2.4 Mit Respekt und Vergnügen
1.2.5 Aber wir schaffen es, verlass Dich drauf!
1.2.6 Ich bedaure nichts
1.2.7 Alles schmeckt nach Abschied
1.2.8 Eine winzige Chance
1.2.9 Grüß Amsterdam
1.2.10 Tagebücher 1955-1970 : eine Auswahl für junge Leser
1.2.11 Brigitte Reimann : eine Biographie in Bildern
1.2.12 Hunger auf Leben : eine Auswahl aus den Tagebüchern 1955-1970
1.2.13 Die Tagebücher 1955-1970
1.2.14 Jede Sorte von Glück
1.2.15 „Wär schön gewesen!“

1.3 Verschollene Werke
1.3.1 Waffen für Tanassis
1.3.2 Die Frau am Pranger
1.3.3 „Sonntag, den ...“

2 Unselbstständig erschienene Werke
2.1 Literarische Texte
2.1.1 Der Tod der schönen Helena
2.1.2 Die Frau am Pranger
2.1.3 Kinder von Hellas
2.1.4 Das Geständnis
2.1.5 Ein Mann steht vor der Tür
2.1.6 Sieben Scheffel Salz
2.1.7 Ankunft im Alltag
2.1.8 Die Geschwister
2.1.9 Das grüne Licht der Steppen
2.1.10 Franziska Linkerhand
2.1.11 Katja
2.1.12 Sammlungen
2.1.13 Weitere literarische Texte

2.2 Tagebücher und Briefe
2.2.1 Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern
2.2.2 Die geliebte, die verfluchte Hoffnung
2.2.3 Sei gegrüßt und lebe
2.2.4 Mit Respekt und Vergnügen
2.2.5 Aber wir schaffen es, verlass Dich drauf!
2.2.6 Ich bedaure nichts
2.2.7 Alles schmeckt nach Abschied
2.2.8 Eine winzige Chance
2.2.9 Grüß Amsterdam
2.2.10 Tagebücher 1955-1970 : eine Auswahl für junge Leser
2.2.11 Brigitte Reimann : eine Biographie in Bildern
2.2.12 Hunger auf Leben : eine Auswahl aus den Tagebüchern 1955-1970
2.2.13 Die Tagebücher 1955-1970
2.2.14 Jede Sorte von Glück
2.2.15 „Wär schön gewesen!“
2.2.16 Weitere Briefe

2.3 Weitere Texte

Band II
3 Originaldokumente
3.1 Literarische Texte
3.1.1 Der Tod der schönen Helena
3.1.2 Die Frau am Pranger
3.1.3 Kinder von Hellas
3.1.4 Das Geständnis
3.1.5 Ein Mann steht vor der Tür
3.1.6 Sieben Scheffel Salz
3.1.7 Ankunft im Alltag
3.1.8 Die Geschwister
3.1.9 Das grüne Licht der Steppen
3.1.10 Franziska Linkerhand
3.1.11 Katja
3.1.12 Sammlungen
3.1.13 Weitere literarische Texte

3.2 Tagebücher
3.2.1 Persönliche Tagebücher
3.2.2 Arbeitstagebücher
3.2.3 Chroniken

3.3 Briefe
3.3.1 Persönlicher Briefwechsel
3.3.2 Institutioneller Briefwechsel

3.4 Weitere Dokumente

4 Nichtkörperliche Werke und Veranstaltungen
4.1 Bühnenwerke
4.2 Rundfunksendungen
4.3 Fernsehsendungen
4.4 Veranstaltungen

Brigitte Reimann (1933–1973)

Brigitte Reimann und Walter Lewerenz bei einer
Lesung in Berlin (1966)
Foto: Bundesarchiv [1]


Brigitte Reimann war eine deutsche Schriftstellerin. Sie wurde am 21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg geboren. Sie lebte bis 1959 in ihrer Heimatstadt Burg, zog 1960 gemeinsam mit Siegfried Pitschmann nach Hoyerswerda und 1968 nach Neubrandenburg. Von 1953 bis 1958 war Brigitte Reimann mit Günter Domnik verheiratet, von 1959 bis 1964 mit Siegfried Pitschmann, von 1964 bis 1970 mit Hans Kerschek und von 1971 bis zu ihrem Tod mit Dr. Rudolf Burgartz. Ihre Ehen blieben alle kinderlos. Brigitte Reimann erlag am 20. Februar 1973 nach langer schwerer Krankheit neununddreißigjährig in einem Berliner Krankenhaus ihrem Krebsleiden.
Brigitte Reimann hinterließ ein schmales, aber vielbeachtetes Werk, als dessen Eckpunkte der postum erschienene unvollendete Roman „Franziska Linkerhand“ (Verlag Neues Leben Berlin, 1974) und ihre Tagebuchbände „Ich bedaure nichts“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1997) und „Alles schmeckt nach Abschied“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1998) bezeichnet werden können.
Die Wahrnehmung der Person Brigitte Reimanns und ihres literarischen Schaffens sind geprägt von teilweise sehr gegensätzlichen Sichtweisen, die auch durch die jeweils zur Verfügung stehenden Quellen und die sich verändernden historischen Zeithintergründe bestimmt wurden. Die bislang einzige vollständige Übersicht über Brigitte Reimanns Werk und dessen Rezeption bietet die mehrbändige Publikation „Brigitte Reimann – Kommentierte Bibliografie und Werkverzeichnis“.

Brigitte Reimann was a German writer. She was born on July 21, 1933 in Burg near Magdeburg. She lived in her hometown of Burg until 1959, moved to Hoyerswerda with Siegfried Pitschmann in 1960 and to Neubrandenburg in 1968. Brigitte Reimann was married to Günter Domnik from 1953 to 1958, to Siegfried Pitschmann from 1959 to 1964, to Hans Kerschek from 1964 to 1970 and to Dr. Rudolf Burgartz from 1971 until her death. Their marriages were all childless. Brigitte Reimann died of cancer in a Berlin hospital on February 20, 1973 at the age of thirty-nine after a long and serious illness.
Brigitte Reimann left behind a small but highly regarded oeuvre, the cornerstones of which are the posthumously published unfinished novel „Franziska Linkerhand“ (Verlag Neues Leben Berlin, 1974) and her diary volumes „Ich bedaure nichts“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1997) and „Alles schmeckt nach Abschied“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1998).
The perception of Brigitte Reimann as a person and of her literary work is characterized by sometimes very contradictory views, which were also determined by the sources available in each case and the changing historical background of the time. The only complete overview of Brigitte Reimanns work and its reception to date is provided by the multi-volume publication „Brigitte Reimann – Annotated Bibliography and Index“.

Lebenschronik

1933
Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg als erstes von insgesamt vier Kindern des Journalisten, Schriftleiters und Bankkaufmanns Willi Reimann (26.05.1904 – 29.09.1990) und seiner Frau Elisabeth, geborene Besch (27.01.1905 – 10.12.1992), geboren.[1] Ihr Elternhaus befindet sich in der Bahnhofstraße 5.[2] Die Familie von Brigitte Reimanns Vater waren alteingesessene Burger. Familie Besch war aus Köln nach Burg gezogen und besaß hier eine kleine Goldleistenfabrik.

1934
Am 25. Dezember 1934 wurde Brigitte Reimanns Bruder Ludwig (Lutz) geboren (gest. 29.11.2022; verheiratet mit Margret Reimann, 10.07.1938–23.05.2023).

1939
Brigitte Reimann wurde am 12. April 1939 in der Burger Grundschule eingeschult. Bei der Einschulung war sie erst fünf Jahre alt.

1941
Am 21. Juli 1941 wurde ihr Bruder Ulrich (Ulli) geboren (verheiratet mit Sigrid Reimann, geb. 10.01.1941).

1942
Ab Ostern 1942 ging Brigitte Reimann auf das städtische Luisen-Lyzeum zu Burg.

1943
Am 28. März 1943 wurde ihre Schwester Dorothea (Dorli), von Brigitte Reimann auch Puppa genannt, geboren (gest. 17.06.2010; verheiratet mit Uwe Herrmann, geb. 24.10.1939). Der Vater wurde eingezogen und kam an die Ostfront. Elisabeth Reimann blieb mit den vier Kindern allein.

1944
Brigitte Reimann wurde 1944 Mitglied und Schriftführerin im Jungmädelbund.

1947
Brigitte Reimann wurde konfirmiert. Am 9. und 11. Juni 1947 fanden die Aufnahmeprüfungen für die Oberschule statt. Ab 1. September 1947 besuchte Brigitte Reimann die Geschwister-Scholl-Oberschule in Burg, in der sie erstmalig in einem gemischten Klassenverband aus Jungen und Mädchen unterrichtet wurde. In der Oberschule leitete sie eine Laienspielgruppe und verfasste für diese kleine Theaterstücke; der Berufswunsch „Schriftstellerin“ entstand. Am 10. Oktober 1947 kehrte der Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Ende November 1947 erkrankte Brigitte Reimann schwer an Kinderlähmung und lag fast drei Monate lang im Krankenhaus (vom 30. November 1947 bis 11. Januar 1948 in Burg, ab 12. Januar bis Februar 1948 in einer Privatklinik in Magdeburg). Zeitlebens behielt sie als Folge dieser Erkrankung ein leichtes Hinken zurück.

1948
Ab Ostern 1948 konnte Brigitte Reimann wieder zur Schule gehen. Im Dezember 1948 wurde bei der Schulweihnachtsfeier der Geschwister-Scholl-Oberschule Brigitte Reimanns erstes Laienspiel „Kameradschaft“ uraufgeführt; in der Burger Zeitung „Volksstimme“ erschien darüber ein Artikel.

1949
Am 1. Februar 1949 trat Brigitte Reimann in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ein.

1950
Im März 1950 lernte sie ihren ersten Freund, Klaus Böhlke, kennen.[3] Brigitte Reimann erhielt die „Wilhelm-Pieck-Friedensmedaille“ der Freien Deutschen Jugend für hervorragende Arbeit im Friedensaufgebot der FDJ. Sie nahm an einem Lehrgang für Agitationsleiter teil. Bei einem Ideenwettbewerb für Laienspiele der Volksbühne der DDR gewann Brigitte Reimann den mit 300 Mark dotierten 1. Preis. Im September besuchte sie einen Lehrgang für Laienspielleiter. Im elterlichen Haus bekam sie ein eigenes Zimmer. Am 27. Dezember 1950 wurde sie für den besten Stalin-Aufsatz des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet.[4]

1951
Vom 20. bis 22. Januar nahm Brigitte Reimann als Delegierte des Kreises Burg am 3. Kongress der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft in Berlin teil. Sie machte ihr Abitur. Anschließend wollte sie Theaterwissenschaften studieren und Regisseurin werden. Im Juni bestand sie die Aufnahmeprüfung an der Theaterhochschule Weimar. Sie begann das Studium, überlegte es sich aber wenige Tage nach Studienbeginn anders und kehrte nach Burg zurück. Bis zum 13. September absolvierte sie einen kurzen pädagogischen Lehrgang am Institut für Lehrerbildung in Staßfurt und arbeitete danach als Grundschullehrerin und Pionierleiterin an der Grundschule IV in Burg. Sie wurde Mitglied des Kulturbunds und nahm am 6. Oktober 1951 an einer Arbeitstagung junger Autoren des Mitteldeutschen Verlages in Halle (Saale) teil.

1952
Im Juli kontaktierte Brigitte Reimann im Zusammenhang mit dem ausgeschriebenen „Wettbewerb um die schönste Liebesgeschichte“ Anna Seghers und reichte zunächst ihre kurze Erzählung „Claudia Serva“ ein.[5] Anna Seghers' brieflicher Rat hinterließ großen Eindruck bei der gerade Neunzehnjährigen: „Zum Schreiben gehört eine gewisse Kühnheit wie zu allen wichtigen Unternehmen. Schreiben Sie nur kein Sonntagsdeutsch, schreiben Sie nur, was Sie wirklich denken und erleben. Schreiben Sie nur keinen falschen Pathos und keine gedichteten Artikel.“[6] Im Wettbewerb allerdings ging Brigitte Reimann leer aus, einen zweiten Preis gewann stattdessen Siegfried Pitschmann mit seiner Liebesgeschichte „Sieben ist eine gute Zahl“. Im August 1952 lernte Brigitte Reimann in der „Betriebssportgemeinschaft Einheit Burg“, dem Kanu-Klub ihres Bruders Lutz, Günter Domnik (geb. 31.10.1933) kennen und verliebte sich in ihn. Sie gab ihm den Spitznamen „Frosch“. Günter Domnik wollte für sechs Monate in Johanngeorgenstadt im Erzbergbau arbeiten, weil dort sehr hohe Löhne gezahlt wurden. Um in seiner Nähe sein zu können, bewarb sich Brigitte Reimann als Kulturinstrukteurin bei der Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) Wismut, gab ihren Plan aber nach einem kurzen Aufenthalt in Johanngeorgenstadt aus gesundheitlichen Gründen wieder auf. Sie ging zurück nach Burg und arbeitete weiter als Lehrerin. Sie gab die Leitung der Laienspielgruppe an der Geschwister-Scholl-Oberschule ab, um sich verstärkt dem Schreiben widmen zu können und begann ihren Roman „Die Denunziantin“ (Untertitel der dritten Fassung: „Kennwort Frosch“).

1953
Am 7. März 1953 beendete Brigitte Reimann die erste Fassung der „Denunziantin“. Am 14. März wurde sie in die gerade gegründete „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ (AJA) des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) in Magdeburg aufgenommen, dessen Aufgabe die Förderung des literarischen Nachwuchses war. Bereits seit Anfang des Jahres 1953 hatte sie an den Arbeitstagungen teilgenommen. Im Magdeburg lernte sie unter anderen Otto Bernhard Wendler, Wolfgang Schreyer, Wolf Dieter Brennecke und Helmut Sakowski kennen. Am 17. Oktober 1953 heirateten Günter Domnik und die schwangere Brigitte Reimann. Brigitte Reimann beendete ihre Tätigkeit als Grundschullehrerin.

1954
Am 10. Januar 1954 kam Brigitte Reimanns Tochter im sechsten Monat zur Welt und starb sofort nach der Geburt. Im April 1954 unternahm Brigitte Reimann einen Selbstmordversuch. Nachdem sie sich erholt hatte, begann sie die Arbeit an der Erzählung „Die Frau am Pranger“. Brigitte Reimann war außerdem Betriebschronistin im VEB Maschinenbau Burg, wo ihr Ehemann Günter Domnik arbeitete und Ortsvorsitzende im Kulturbund. Kurzzeitig arbeitete sie in der Volksbuchhandlung „Bücherfreund“ in Burg als Buchhändlerin.

1955
Ab 1955 arbeitete Brigitte Reimann als freiberufliche Autorin. Sie übernahm die Leitung der Laienspielgruppe des VEB Maschinenbau Burg. Die Erzählung „Der Legionär: Marienlegende 1952“ erschien als Heft 1 der Reihe „Magdeburger Lesebogen“. Ihre Erzählung „Der Tod der schönen Helena“ wurde im Verlag des Ministeriums des Innern, Berlin, in einer Reihe von Abenteuerromanen veröffentlicht. Brigitte Reimann lernte den Kunsthistoriker und Schriftsteller Georg Piltz kennen; die kurze Beziehung mit ihm sollte sie intensiv prägen. Im Oktober 1955 nahm Brigitte Reimann auf Einladung des Kulturministeriums an einer Tagung für Abenteuerschriftsteller teil.

1956
1956 erschienen die Erzählungen „Die Frau am Pranger“ (Verlag Neues Leben, Berlin) und „Kinder von Hellas“ (Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin). Vom 15. Oktober bis zum 30. November 1956 nahm Brigitte Reimann an einem DEFA-Lehrgang für Drehbuchautoren im Liselotte-Hermann-Heim in Potsdam-Sacrow teil, wo sie auch Max Walter Schulz und Herbert Nachbar kennenlernte, mit denen sie eine Dreiecksbeziehung begann.[7] Inzwischen konnte Brigitte Reimann die vorgeschriebenen zwei Publikationen vorweisen, um am 9. November 1956 in den Deutschen Schriftstellerverband aufgenommen zu werden.

1957
Am 26. September 1957 unterschrieb Brigitte Reimann unter dem Decknamen „Caterine“ eine „Bereitschaftserklärung“, als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) zu arbeiten. Am 8. Dezember wurde ihr Ehemann Günter Domnik wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ verhaftet; Domnik hatte versucht, eine Gruppe Jugendlicher vor der Festnahme durch die Volkspolizei zu schützen. In der Folgezeit erpresste das MfS Brigitte Reimann mit Aussicht auf eine Besuchserlaubnis, verbesserte Haftbedingungen und eine frühere Entlassung für ihren Ehemann.

1958
Im März 1958 lernte Brigitte Reimann im Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow am Schwielowsee den Schriftsteller Siegfried Pitschmann kennen und lieben; vom 21. März 1958 an waren sie ein Paar. Auch die von großer Ambivalenz geprägte Freundschaft zwischen Brigitte Reimann und ihrer Schriftstellerkollegin Annemarie Auer begann in dieser Zeit. Am 7. Juni wurde Günter Domnik aus der Haft entlassen. Brigitte Reimann trennte sich kurze Zeit später von ihm, um mit Siegfried Pitschmann zusammenleben zu können. Nachdem Brigitte Reimann ihre Informantentätigkeit öffentlich gemacht hatte, um sich von der Stasi-Mitarbeit befreien zu können, und Dank der tatkräftigen Unterstützung ihrer Schriftstellerkollegen, hier besonders Wolfgang Schreyer, strich das MfS am 18. November 1958 Brigitte Reimann aus ihrem IM-Kader, um sie von nun an für ihr weiteres Leben intensiv überwachen zu lassen. Am 28. November 1958 wurde Brigitte Reimann von Günter Domnik geschieden, Siegfried Pitschmanns Ehe wurde am 20. Dezember 1958 geschieden.

1959
Am 10. Februar 1959 heirateten während eines erneuten Aufenthalts im Schriftstellerheim Petzow Brigitte Reimann und Siegfried Daniel Pitschmann in Werder bei Potsdam; einziger Hochzeitsgast war beider Lektor Günter Caspar. Eine eigene Wohnung hatte das Paar zunächst nicht; sie wohnten in Brigitte Reimanns Elternhaus in Burg. Kurz vor der Hochzeit hatte Siegfried Pitschmann Brigitte Reimann in Petzow mit Bodo Uhse bekannt gemacht, der bei Brigitte Reimann einen tiefen Eindruck hinterließ. Mittlerweile steckten sowohl Reimanns aktuelles Romanprojekt „Zehn Jahre nach einem Tod“[8] als auch Pitschmanns Roman „Erziehung eines Helden“[9] in einer tiefen Krise, da die Verlage mit beiden Manuskripten mehr als unzufrieden waren und dies deutlich zum Ausdruck brachten. Am 31. Juli 1959 versuchte Siegfried Pitschmann sich das Leben zu nehmen, nachdem „Erziehung eines Helden“ vom Schriftstellerverband in der Öffentlichkeit diffamiert und als warnendes Beispiel für den sogenannten „harten Stil“ bezeichnet worden war. Erwin Strittmatter, der bei der Vorverurteilung des Pitschmann-Romans eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, versuchte daraufhin, seinen Fehler wiedergutzumachen. Er machte beiden Schriftstellern Mut und unterstützte sie bei den Planungen für einen Neubeginn in Hoyerswerda und im Kombinat Schwarze Pumpe. Im August 1959 begannen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann noch in Burg mit der Arbeit an dem Hörspiel „Ein Mann steht vor der Tür“, das im Kombinat Schwarze Pumpe spielen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war Brigitte Reimann noch nie in Hoyerswerda oder im Kombinat Schwarze Pumpe gewesen. Nur Siegfried Pitschmann kannte sich mit dem Stoff aus, über den beide nun schrieben. Am 11. November 1959 beschloss Brigitte Reimann, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen, um einen unbelasteten Neuanfang mit Siegfried Pitschmann haben zu können und verbrannte ihre Tagebücher aus den Jahren 1947 bis 1954 (ungefähr zwanzig Hefte). Am Tag darauf, dem 12. November 1965, verbrannte sie außerdem große Mengen an Briefen, Manuskripten, Bildern und Zeitungsausschnitten.

1960
Am 6. Januar 1960 zogen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann nach Hoyerswerda. Die Zweiraumwohnung in der Liselotte-Herrmann-Straße 20 wurde ihre erste eigene gemeinsame Wohnung. Am 3. Februar schlossen sie einen Freundschaftsvertrag mit dem Kombinat Schwarze Pumpe. Ab April 1960 arbeiteten Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann einen Tag pro Woche im Kombinat: Brigitte Reimann als Hilfsschlosser in der von Erwin Hanke geleiteten Vorzeigebrigade „10. Jahrestag“, einer Brigade von Rohrschlossern und Instandsetzungsmechanikern, Siegfried Pitschmann in der Brikettherstellung. Beide leiteten gemeinsam den Zirkel schreibender Arbeiter[10], organisierten Lesungen in Brigaden, arbeiteten an der Betriebszeitung mit und unterstützten das Arbeitertheater. Im April 1960 gewannen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann mit ihrem Hörspiel „Ein Mann steht vor der Tür“ den zweiten Preis in der Nationalen Runde des „Internationalen Hörspielwettbewerbs“. Die Erzählung „Das Geständnis“ erschien im Aufbau-Verlag, Berlin. Reimann und Pitschmann schrieben ein weiteres Hörspiel mit dem Titel „Sieben Scheffel Salz“. Gemeinsam erhielten sie am 2. Dezember 1960 die Ehrennadel in Gold „Erbauer des Kombinats Schwarze Pumpe“. Am selben Tag fand die Uraufführung des Theaterstücks „Ein Mann steht vor der Tür“ durch das Arbeitertheater des Kombinats Schwarze Pumpe statt. Brigitte Reimanns nahm mit den Schriftstellern Heinz Kruschel und Reiner Kunze Briefwechsel auf, die sie bis zu ihrem Lebensende fortführen sollte.

1961
Am 27. Januar 1961 begann Brigitte Reimann eine folgenschwere Affäre mit Hans Kerschek, Raupenfahrer im Kombinat Schwarze Pumpe und Mitglied im Zirkel schreibender Arbeiter. Die Dreiecksbeziehung blieb Siegfried Pitschmann zunächst verborgen, wurde dann aber zu einer dauerhaften Belastung für alle Beteiligten, was im Jahr 1964 mit der Scheidung Brigitte Reimanns von Siegfried Pitschmann (13.10.1964) und ihrer anschließenden Hochzeit mit Hans Kerschek (27.11.1964) endete. Die Erzählung „Ankunft im Alltag“, in der Brigitte Reimann ihre Erfahrungen im Kombinat Schwarze Pumpe, an der „Basis“ im Rahmen des „Bitterfelder Weges“ verarbeitet hatte, erschien im Verlag Neues Leben, Berlin. Nach diesem Buch wurde in der DDR das Genre der „Ankunftsliteratur“ benannt. Brigitte Reimann beendete die praktische Arbeit in der Rohrlegerbrigade des Kombinats Schwarze Pumpe. Zusammen mit Siegfried Pitschmann erhielt sie am 16. Juni 1961 den Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) für die Hörspiele „Ein Mann steht vor der Tür“ und „Sieben Scheffel Salz“. Im September reiste sie als Auszeichnung für den Gewinn im Hörspielwettbewerb gemeinsam mit Siegfried Pitschmann nach Prag.

1962
Am 21. Januar 1962 wurde das Fernsehspiel „Die Frau am Pranger“ nach Brigitte Reimanns gleichnamiger Erzählung mit großem Erfolg im Deutschen Fernsehfunk ausgestrahlt; das Drehbuch hatten Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann gemeinsam geschrieben. Anfang Juni wurde Hans Kerschek von seiner ersten Frau geschieden; Brigitte Reimann musste im Scheidungsprozess aussagen. Am 10. Juni 1962 erhielt Brigitte Reimann den Literaturpreis des FDGB für „Ankunft im Alltag“. Am 2. Juli wurde ihr ein Preis im Wettbewerb des Kulturministeriums zur Förderung der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur für „Ankunft im Alltag“ verliehen. Am 23. August begann sie mit ersten Notizen für ihren neuen Roman „Franziska Linkerhand“.

Brigitte Reimann auf der Kulturkonferenz des
Kombinates Schwarze Pumpe (1962)
Foto: Zentralarchiv VE Mining & Generation,
Schwarze Pumpe [2]


1963
Die Erzählung „Die Geschwister“ erschien im Aufbau-Verlag, Berlin. Der Architekt Hermann Henselmann las das Buch und schrieb Brigitte Reimann einen begeisterten Brief. Damit begann die Freundschaft zwischen dem DDR-Stararchitekten und der Schriftstellerin, die Reimanns Interesse an Städtebau und Architektur weckte und großen Einfluss auf ihr literarisches Werk haben sollte. Am 25. Januar 1963 legten Brigitte Reimann und der Dramaturg Lutz Kohlert eine Skizze für den gleichnamigen Film vor; der Film wurde jedoch nicht realisiert. Auch Brigitte Reimanns Erzählung „Ankunft im Alltag“ sollte verfilmt werden. Das Rohdrehbuch schloss Brigitte Reimann im Frühsommer ab; dieser Film wurde ebenfalls nicht realisiert. Brigitte Reimann wurde in den Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes gewählt. Vom 24. Juli bis zum 12. August 1963 war sie wegen einer Operation in der Berliner Charité. Im Oktober 1963 reiste Brigitte Reimann als Delegierte des Deutschen Schriftstellerverbandes auf Einladung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes mit Christa Wolf nach Moskau. Beide hatten 1963 jeweils eine Erzählung veröffentlicht, die sich mit dem Mauerbau am 13. August 1961 auseinandersetzte, deshalb sollten sie diese in Moskau gemeinsam vorstellen. Brigitte Reimann präsentierte „Die Geschwister“, Christa Wolf „Der geteilte Himmel“. Diese Reise legte den Grundstein für den Beginn der Freundschaft zwischen den sich zuvor eher weniger wohlgesonnenen Schriftstellerinnen. Ebenfalls im Oktober 1963 wurde Brigitte Reimann Mitglied der Jugendkommission beim Politbüro des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (ZK der SED), was ihr viele Türen öffnen sollte, die ihr bis dahin verschlossen geblieben waren. Vom 23. November 1963 an arbeitete sie an ihrem Roman „Franziska Linkerhand“.

1964
Im März 1964 nahm die Malerin Erika Stürmer-Alex Kontakt mit Brigitte Reimann auf, weil sie sie gern porträtieren wollte. Brigitte Reimann sagte zu und zwischen den so gegensätzlichen Künstlerinnen entstand eine Freundschaft.[11] Am 24. und 25. April nahm Brigitte Reimann an der 2. Bitterfelder Konferenz teil, die – wie bereits die 1. Bitterfelder Konferenz 1959 – im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld stattfand, aber dieses Mal nicht vom Mitteldeutschen Verlag, sondern von der Ideologischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED und dem Ministerium für Kultur veranstaltet wurde. Im Juli 1964 reiste Brigitte Reimann als Mitglied der Jugendkommission mit einer Delegation des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend nach Sibirien. Während dieser Reise wurde ihr in Zelinograd die Auszeichnung „Aktivist der Kommunistischen Arbeit“ verliehen. Nach der Scheidung von Siegfried Pitschmann am 13. Oktober 1964 heiratete sie am 27. November Hans Kerschek (Jon). Am 1. Dezember 1964 präsentierte Erika Stürmer-Alex ihr Brigitte-Reimann-Porträt erfolgreich vor der Abnahmekommission des Bezirksverbands Frankfurt (Oder) des „Verbands Bildender Künstler Deutschlands“ (VBKD).

1965
Die Reportage „Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise“ erschien im Verlag Neues Leben, Berlin. Brigitte Reimann lernte Günter de Bruyn kennen, dem sie bis zu ihrem Lebensende freundschaftlich verbunden blieb. Am 28. März 1965 wurde Brigitte Reimann für ihre Erzählung „Die Geschwister“ der Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste verliehen (der Heinrich-Mann-Preis 1965 ging außerdem an Johannes Bobrowski). Vom 14. bis 22. Mai nahm Brigitte Reimann am Internationalen Schriftstellertreffen Berlin und Weimar teil. Am 6. Oktober 1965 erhielt sie den „Carl-Blechen-Preis des Rates des Bezirkes Cottbus für Kunst, Literatur und künstlerisches Volksschaffen“. Im Dezember 1965 fand das 11. Plenum des ZK der SED statt, auf dem kritische Künstler, besonders Filmemacher, angegriffen wurden.

1966
Im Januar 1966 wurde die Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED – nach einem Skandal um Kurt Turba auf dem 11. Plenum (ausgelöst durch einen Zeitungsartikel im Neuen Deutschland vom 11. April 1965) und seiner anschließenden Entbindung von allen Funktionen – aufgelöst. Brigitte Reimann verlor damit eine wichtige Position, die ihr bis dahin einen relativ großen Spielraum in Bezug auf eine freie Meinungsäußerung gestattet hatte. Erste Pläne für einen Umzug nach Neubrandenburg entstanden 1966 während eines Besuchs bei ihrem Schriftstellerkollegen Helmut Sakowski in Neustrelitz. Dabei lernte Brigitte Reimann auch die Neubrandenburger Schriftstellerin Margarete Neumann kennen, die nach Reimanns Umzug von Hoyerswerda nach Neubrandenburg zu ihren engsten Vertrauten gehören sollte.

1967
Brigitte Reimann schrieb mit Roland Oehme und Lothar Warneke ein Drehbuch zu Günter Kähnes Roman „Martin Jalitschka heiratet nicht“. Auch dieser Film wurde nicht realisiert. Lothar Warneke sollte aber 1981 im DEFA-Film „Unser kurzes Leben“ Regie führen; der Verfilmung von Reimanns postum erschienenem Roman „Franziska Linkerhand“ (Hauptrolle: Simone Frost).

1968
Am 1. Juni 1968 unterzeichnete Brigitte Reimann mit 52 anderen Mitgliedern des Kulturbunds Hoyerswerda eine an den Staatsrat der DDR gerichtete Beschwerde, in der ein Ausbau des Zentrums von Hoyerswerda-Neustadt gefordert wurde. Im Sommer wurde bei ihr Krebs diagnostiziert; Brigitte Reimann wurde operiert. Am 20. August 1968 marschierten Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR ein; Brigitte Reimann unterschrieb nicht wie gefordert die zustimmende Erklärung des Schriftstellerverbands. Am 18. November zog sie nach Neubrandenburg in die Gartenstraße 6. Dort arbeitete Brigitte Reimann unter anderem mit der Brigade Fock beim VEB Tiefbau Neubrandenburg zusammen.

1969
Brigitte Reimann wurde Mitglied im Kreisvorstand der „Nationalen Front des demokratischen Deutschland“[12] in Neubrandenburg. Am 11. September 1969 trennten sich Brigitte Reimann und Hans Kerschek. Die Dreharbeiten für Brigitte Reimanns Dokumentarfilm „Sonntag, den … – Briefe aus einer Stadt“ begannen einen Tag nach der Trennung.

1970
Am 20. März 1970 wurde der Dokumentarfilm im II. Programm des DDR-Fernsehens als einer der ersten Farbfilme ausgestrahlt. Am 1. Juni 1970 wurden Brigitte Reimann und Hans Kerschek geschieden. Im September lernte Brigitte Reimann ihren späteren Ehemann Dr. Rudolf Burgartz kennen.

1971
Brigitte Reimanns Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Sie wechselte ständig zwischen der Wohnung in Neubrandenburg und dem Krankenhaus in Berlin-Buch, wo sie mehrfach operiert wurde. Am 14. Mai 1971 heiratete sie den Arzt Dr. Rudolf Burgartz.

1972
Obwohl Brigitte Reimann gesundheitlich kaum noch dazu in der Lage war, versuchte sie mit aller Kraft, ihren Roman „Franziska Linkerhand“ zu beenden. Es gelang ihr nicht mehr. Vom 18. August an lag Brigitte Reimann – teilweise kaum noch ansprechbar – nahezu durchgehend im Krankenhaus Berlin-Buch. Weihnachten 1972 verbrachte sie zum letzten Mal in Neubrandenburg.

1973
Ihren letzten Brief schrieb Brigitte Reimann am 15. Januar an Christa Wolf. Am 20. Februar 1973 starb Brigitte Reimann im Klinikum Berlin-Buch. Die vom Deutschen Schriftstellerverband organisierte Trauerfeier fand am 2. März auf dem Friedhof Berlin-Baumschulenweg statt. Die Trauerrede hielt Helmut Sakowski. Am 3. April wurde Brigitte Reimann in ihrer Heimatstadt Burg beerdigt.[13] Nach einer Zwischenstation auf dem Friedhof in Oranienbaum bei Dessau befinden sich Brigitte Reimanns Urne und ihr Grabstein seit dem 20. Juli 2019 wieder auf dem Ostfriedhof in Burg (Alter Teil des Friedhofes), Berliner Chaussee 139a, 39288 Burg (bei Magdeburg). Das Grab erhielt im Jahr 2020 zusätzlich eine Gedenkstele mit der Inschrift „Ich bedaure nichts“.

1974
Der unvollendete Roman „Franziska Linkerhand“ wurde von Brigitte Reimanns langjährigem Lektor Walter Lewerenz aus dem Nachlass ediert und erschien anlässlich Brigitte Reimanns Geburtstag im Juli 1974 postum im Verlag Neues Leben, Berlin.

Werke

Der Tod der schönen Helena (1955); Die Frau am Pranger (1956); Kinder von Hellas (1956); Das Geständnis (1960); Ein Mann steht vor der Tür (1960, Hörspiel, gemeinsam mit Siegfried Pitschmann); Sieben Scheffel Salz (1960, Hörspiel, gemeinsam mit Siegfried Pitschmann); Ankunft im Alltag (1961); Die Frau am Pranger (1962, Drehbuch, gemeinsam mit Siegfried Pitschmann); Die Geschwister (1963); Das grüne Licht der Steppen (1965); Sonntag, den ... (1970, Drehbuch zum Dokumentarfilm). Postum: Franziska Linkerhand (1974, 1998 ungekürzte Neuausgabe); Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern (1983); Die geliebte, die verfluchte Hoffnung (1984); Sei gegrüßt und lebe (1993, Briefwechsel mit Christa Wolf ); Briefwechsel (1994, Briefwechsel mit Hermann Henselmann); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf! (1995, Briefe an Veralore Weich, geb. Schwirtz); Ich bedaure nichts (1997, Tagebücher 1955 bis 1963); Alles schmeckt nach Abschied (1998, Tagebücher 1964 bis 1970); Eine winzige Chance (1999, Briefwechsel mit Dieter Dreßler); Katja (2003); Grüß Amsterdam (2003, Briefwechsel mit Irmgard Weinhofen, geb. Herfurth); Joe und das Mädchen auf der Lotosblume (2003); Wenn die Stunde ist, zu sprechen ... (2003); Jede Sorte von Glück (2008, Briefe an die Eltern); „Wär schön gewesen!“ (2013, Briefwechsel mit Siegfried Pitschmann); Post vom Schwarzen Schaf (2018, Briefwechsel mit den Geschwistern); „Ich möchte so gern ein Held sein“ (2018, Briefwechsel mit Wolfgang Schreyer); Die Denunziantin (2022, Erstveröffentlichung des 1953 entstandenen Romans).

Brigitte Reimanns Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Anmerkungen

[1] Willi Reimann arbeitete in einer Bank, wurde aber um 1930 arbeitslos. Er bekam einen Job als Schriftleiter in der Druckerei seines Freundes Paul Hopfer, den er bis 1943 ausübte. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft übernahm Willi Reimann 1947 bis 1950 verschiedene Hilfsjobs, bevor er 1950 wieder eine Anstellung in einer Bank fand.
[2] Das Haus wurde im Jahr 2017 abgerissen.
[3] Im Frühsommer 1951 wurde sie von Klaus schwanger, ließ das Kind aber abtreiben.
[4] „Szenen um Stalin“.
[5] Unveröffentlicht.
[6] Anna Seghers an Brigitte Reimann, 06.08.1952.
[7| Nach Beendigung des Lehrgangs blieb sie noch einige Tage im Heim in Sacrow.
[8] Unveröffentlicht. Manuskript verschollen.
[9] Erschien postum am 15. Mai 2015 im Aisthesis-Verlag Bielefeld.
[10] Mitglied des Zirkels war auch Volker Braun, der einzige, den Brigitte Reimann für wirklich begabt hielt.
[11] Das Porträt hängt heute im Literaturzentrum Neubrandenburg.
[12] Ab 1974 Namensänderung in „Nationale Front der Deutschen Demokratischen Republik“.
[13] Nach dem Tod ihres Mannes Willi Reimann († 29.09.1990) zog Elisabeth Reimann zu ihrem jüngsten Sohn Ulrich und dessen Frau nach Oranienbaum bei Dessau. Dort wurde eine Familiengrabstätte eingerichtet, in die die Urnen von Brigitte und Willi Reimann am 15. Juli 1992 überführt werden. Nach dem Tod Elisabeth Reimanns († 10.12.1992) wurde auch sie in Oranienbaum bestattet. Das liebevoll gepflegte Grab befand sich rechter Hand des Eingangstores in der Nähe der Friedhofsmauer.