Siegfried Pitschmann: Erzählungen aus Schwarze Pumpe
Mit einem Gedicht von Volker Braun
Hrsg. von Kristina Stella. Bielefeld: Aisthesis 2016, ISBN 978-3-8498-1166-2, 183 Seiten, Klappenbroschur, EUR 9.95
Unter dem Titel „Erzählungen aus Schwarze Pumpe“ erschienen alle Erzählungen Pitschmanns zum Thema Schwarze Pumpe in ihren Originalfassungen erstmals gemeinsam in einem Band. Wie im Roman „Erziehung eines Helden“ illustrieren Originalfotos aus dem Archiv des Kombinates Schwarze Pumpe die literarischen Texte. Der umfangreiche Anhang enthält Siegfried Pitschmanns Rede zum Tag der Heiligen Barbara am 3. Dezember 1993 – mit der er ein letztes Mal an den Schauplatz des Geschehens zurückkehrte – sowie ein Nachwort, in dem die Entstehungsgeschichte der Erzählungen anhand von Archivmaterialien dokumentiert wird.
Under the title „Stories from Schwarze Pumpe“, all of Pitschmanns stories about Schwarze Pumpe were published in their original versions together in one volume for the first time. As in the novel „Education of a Hero“, original photos from the archive of the Schwarze Pumpe combine illustrate the literary texts. The extensive appendix contains Siegfried Pitschmanns speech on St. Barbaras Day on December 3, 1993 – with which he returned to the scene of the events for the last time – as well as an epilogue documenting the history of the stories' creation using archive material.
Pressestimmen
Pitschmanns Schwarze-Pumpe-Kurzgeschichten beweisen, dass er zu den begnadetsten deutschen Autoren dieses Genres zu zählen ist.Uwe Stiehler in „Brandenburger Blätter“, 26.02.2016
Das kennt jeder: Du beginnst zu lesen, findest das Sujet eher sperrig – zumal, wenn das Thema, hier der Aufbau-Elan in der sozialistischen Wirtschaft, schon mehr als hinreichend beleuchtet worden ist. Jedenfalls für einen, der im Osten groß geworden ist. Aber dann merkt man schnell: Verdammt, das ist große Literatur! Aus Pitschmann hätte ein Charles Bukowski werden können. Aber dafür hätte er fortgehen müssen.
Andreas Montag in „Mitteldeutsche Zeitung“, 27.02.2016
Die Herausgeberin erinnert sich gut daran, dass „mich viele für verrückt erklärten, als ich anfing, mich mit Pitschmann zu beschäftigen“. Die Verrücktheit hat sich gelohnt, was auch der neue Band beweist, der das bekannte Bild von Literatur aus der DDR vervollständigt.
Frank Wilhelm in „Nordkurier“, 02.03.2016
Inhalt
Volker Braun: Erziehung eines HeldenErzählungen aus Schwarze Pumpe
Das Wiedersehen
Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns
Elvis feiert Geburtstag
Vom Ruhm der Unzufriedenheit
Das Fest
Die Ansprache
Ein Mann namens Salbenblatt
Anhang
Siegfried Pitschmann: Festansprache zum Tag der Heiligen Barbara
Nachwort
Editorische Anmerkungen
Quellenverzeichnis
Biografie Siegfried Pitschmann
Dank
Zur Entstehungsgeschichte der „Erzählungen aus Schwarze Pumpe“
„Es ist noch früh am Morgen, es wird gerade hell. Ich sitze in meiner wunderhübschen, bequem und zweckmäßig eingerichteten Mansarde am Fenster. Das Fenster ist offen, ich höre den Lärm der Vögel, sonst ist alles ruhig, den ganzen Tag. Die Atmosphäre dieses Hauses stachelt geradezu zum Schreiben, zum Arbeiten auf. Ich habe die ersten Versuche zur 'Erziehung eines Helden' hinter mir. Ich bin noch nicht zufrieden, habe noch nicht ganz den richtigen Ton getroffen, bin aber voll Hoffnung. Diese Sache muß und wird mir gelingen, es hängt sehr viel davon ab.“Diese Sätze Siegfried Pitschmanns entstammen einem bisher unveröffentlichten Brief, den er 1958 aus dem Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow an eine Freundin schrieb. Ein reichliches Jahr später wurde das inzwischen vorliegende Romanmanuskript vom Schriftstellerverband und dessen Erstem Sekretär Erwin Strittmatter in einer intern geführten Diskussion verrissen und als deutliches Negativbeispiel für die sogenannte „harte Schreibweise“ gebrandmarkt. Als die Debatte auch noch in Zeitungsartikeln an die Öffentlichkeit gelangte, versuchte Siegfried Pitschmann, desillusioniert und vollkommen entmutigt, sich das Leben zu nehmen. Seine Frau Brigitte Reimann kämpfte um ihn. Pitschmann überlebte und fasste neuen Mut, als Erwin Strittmatter – seinen Fehler im Umgang mit Pitschmann und dessen Werk einsehend, ohne jedoch seine Meinung über die sogenannte „harte Schreibweise“ in Frage zu stellen – ihn von seinem schriftstellerischen Können zu überzeugen vermochte. Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann wagten einen Neuanfang auf dem – mittlerweile offiziellen – „Bitterfelder Weg“. Im September 1959 kam das Schriftstellerpaar zum Antrittsbesuch ins Kombinat Schwarze Pumpe in der Lausitz. Für Brigitte Reimann war alles Neuland:
„Vorige Woche waren wir in Hoyerswerda; wir fuhren auf gut Glück, um dem albernen und fruchtlosen Briefwechsel ein Ende zu machen. H. ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, daß ich den ganzen Tag wie besoffen herumlief. Beschreibungen will ich mir hier versagen – H. und das Kombinat werden noch oft genug – falls dies literarisch überhaupt zu bewältigen ist – in Erzählungen oder sogar einem Roman auftauchen. Daniel ist glücklich.“ [Reimann, Brigitte: Ich bedaure nichts. Aufbau, 1997]
Für Siegfried Daniel Pitschmann ist die Reise nach Schwarze Pumpe ein Wiedersehen: „Es war noch der alte Bahnhof, auf dem unser Zug hielt, ein kleiner, ganz gewöhnlicher steingrauer Provinzbahnhof, wie es sie an allen Strecken gibt.“ So beginnt seine Erzählung „Das Wiedersehen“, mit der er seinen Entschluss, die bisherigen und die kommenden Erlebnisse in Schwarze Pumpe ab jetzt in Erzählungen literarisch zu verarbeiten, in die Tat umzusetzen begann. Von 1959 bis 1967 entstanden insgesamt sieben Erzählungen zum Thema Schwarze Pumpe, die den Schauplatz mit neuen Protagonisten füllten und dabei auch die Erzählfäden des Romans wieder aufnahmen. Einige der Erzählungen wurden in der „Wochenpost“ oder in Pitschmanns Erzählbänden im Aufbau-Verlag veröffentlicht.
Leseprobe
Wie wußte er noch jenen Abend, da er seine Liebe zur Musik entdeckte. Er saß eingeklemmt in der Menge, ein bißchen unsicher und steif, und er sah angestrengt auf seine Hand mit der zusammengeknüllten Eintrittskarte und horchte nach vorn, und er fühlte sich befangen in der gleichen Andacht wie all die Menschen ringsum. Nun war er mißtrauisch gegen alles Ungenaue, aber dies, so fand er, konnte keine Gaukelei sein, in Töne gesetzt, und während er in der Pause unruhig auf und ab wanderte, fragte er sich, wer denn dieser Mensch war, der ihm heute, über mehr als ein Jahrhundert hinweg, erhabene Schauder ins Herz trieb und der zugleich hundert gute und hoffnungsvolle Gedanken in ihm weckte. Ach, er mußte sein Leben ändern. –Aus jeder Seite, die er umblätterte, stieg Erinnerung, und manchmal spitzte er die Lippen und versuchte, ein Thema anzudeuten; sein Gedächtnis war verläßlich durch lange Übung. Jedoch hatte er bald keine Ruhe mehr, auch machte er sich gelinde Vorwürfe, daß er den Jungen hatte gehen lassen, ohne ihn einzuladen. (Bedürfnisse, wußte er, waren erlernbar, indessen hielt er jeden hitzig quengelnden Bekehrungseifer für tölpelhaft und schädlich.) Trotzdem – dachte er –, es wäre schön gewesen, und vielleicht ... Er stand auf, langte plötzlich seinen großen Hut von der Wand und nagelte ihn, entschlossen und sogleich köstlich erleichtert, über das Foto an der Schranktür.
Es war nun an der Zeit. Er drückte langsam, mit einer feierlichen Bewegung die Radiotaste nach unten. Da war der Saal. Das Flüstern der Menge. Das aufgeregte Rascheln von Programmblättern. Füße. Ein Oboenton, flüchtiges Steigen und Fallen wie Wind im Laub. Die dunkle Lachkaskade des Fagotts.
Elvis rückte vorsichtig seinen Stuhl zurück. Er spürte Herzklopfen, wie immer an solchen Abenden, und wenn er die Augen schloß, sah er sich inmitten der anderen, und er wartete wie sie voll summender Ungeduld darauf, daß es beginnen sollte.
Aber er war allein. Und so stand er noch einmal auf, kramte ein Stück Karton und seinen alten Zimmermannsblei aus dem Schrank, malte hastig ein dickes Ausrufungszeichen in die Ecke des Blattes, und dann, angespannt nach den Jungs nebenan horchend, schrieb er:
Bitte keinen Lärm. Ich sitze im Konzert. Wer Lust hat, kann hereinkommen und zuhören. Vielen Dank. Elvis.
Er heftete das Blatt von außen an seine Tür. Aus dem Radio stieg schon Beifall, und man konnte durch den Beifall hindurch den eiligen Schritt des Dirigenten ausmachen. Dann Stille, unvergleichlich, die Stille vor dem ersten Takt.
Elvis saß da, sehr gesammelt, er verschränkte lautlos die Hände, und es ziemt sich nun für uns, in den Hintergrund zu tauchen und zu schweigen, und warum sollten wir nicht, zum guten Ende, ehrliche Hoffnung haben: Vielleicht ist einer von den Jungs an der Tür.
Und dies wäre ein neuer Anfang.